Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
gegenüber dem Hof.«
Fabre senkte seine Lorgnette. Er war sichtlich geschmeichelt, hocherfreut – wegen dieses einen kleinen Satzes: »Ich kenne Ihre Arbeiten.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Mich verkaufen? Nein, danke. Ich lebe gern gut, das gebe ich zu. Und ich habe auch nichts dagegen, schnelles Geld zu verdienen. Aber es gibt Grenzen.«
D’Anton hatte einen Tisch für sie gefunden. »Wie lange ist das jetzt her?«, fragte Fabre. »Zehn Jahre? Oder noch länger? Man sagt das so dahin, ›wir werden uns wieder begegnen‹, ohne recht daran zu glauben.«
»Zurzeit finden überall die richtigen Leute zusammen«, sagte Camille. »Man erkennt sie, als hätten sie ein Kreuz auf der Stirn. Letzte Woche habe ich zum Beispiel Brissot getroffen.« D’Anton fragte nicht, wer Brissot war. Camille hatte eine Vielzahl zwielichtiger Bekannter. »Oder gerade eben Hérault – ausgerechnet der. Ich konnte Hérault nie leiden, aber jetzt habe ich so ein Gefühl, ein ganz anderes Gefühl. Wider besseres Wissen, aber es ist nun mal so.«
»Hérault ist Richter am Parlament«, erklärte d’Anton Fabre. »Er kommt aus einer unglaublich reichen, alten Familie. Er ist höchstens dreißig, makellose Erscheinung, weitgereist, die Damen bei Hof laufen ihm alle nach –«
»Grausig«, murmelte Fabre.
»Und wir sind beide verblüfft, weil er gerade zehn Minuten mit uns geredet hat. Angeblich«, d’Anton grinste, »hält er sich für einen großen Redner, steht stundenlang allein vor dem Spiegel und spricht zu sich. Wobei ich mich frage, wie das irgendwer wissen kann, wenn er dabei allein ist.«
»Allein bis auf die Dienerschaft«, sagte Camille. »Die Adligen halten ihre Diener nicht für echte Menschen, deshalb leben sie ihre kleinen Schwächen bedenkenlos vor ihnen aus.«
»Wofür übt er denn?« fragte Fabre. »Für die Generalstände?«
»Das vermuten wir«, sagte d’Anton. »Vielleicht sieht er sich als Führer der Reformer. Er hat fortschrittliche Ideen. Zumindest deutet er das an.«
»Na ja«, sagte Camille. »›Ihr Silber und Gold wird sie nicht erretten am Tage des Zorns des HERRN.‹ Es steht alles bei Hesekiel, wisst ihr – wenn man es sich im Hebräischen anschaut, ist es ganz unmissverständlich. ›… auch wird weder Gesetz bei den Priestern noch Rat bei den Alten mehr sein. Der König wird betrübt sein, und die Fürsten werden in Entsetzen gekleidet sein‹ – das werden sie ganz bestimmt, und zwar ziemlich bald, wenn sie so weitermachen wie bisher.«
Am Nachbartisch sagte jemand: »Sie sollten etwas leiser reden, sonst haben Sie bald die Polizei als Publikum.«
Fabre schlug auf den Tisch und sprang auf. Sein Gesicht war hochrot angelaufen. »Es ist kein Vergehen, die Heilige Schrift zu zitieren«, rief er, »ganz egal in welchem Zusammenhang.« Irgendjemand kicherte. »Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte Fabre erregt zu Camille, »aber Sie können auf mich zählen.«
»Oje«, murmelte d’Anton. »Ermutige ihn nicht auch noch.« Unbemerkt das Café zu verlassen war ihm bei seiner kräftigen Statur nicht möglich, deshalb tat er so, als gehörte er nicht zu den beiden. Ermutigung ist wirklich das Letzte, was du brauchst, dachte er, du stiftest Unruhe, weil du gar nicht anders kannst, du denkst an die Zerstörung der Außenwelt wegen der Zerstörung in deinem Innern. Er wandte den Kopf zur Tür, hinter der die Stadt lag. Da draußen gibt es Millionen Menschen, dachte er, deren Ansichten ich nicht kenne. Überstürzt handelnde, unbesonnene Menschen, in Routine erstarrte Menschen, prinzipienlose, berechnende, nette Menschen. Es gab Menschen, die aus dem Hebräischen übersetzten, und andere, die nicht einmal zählen konnten, ungeborene Kinder, die sich in der Wärme des Leibes wanden wie Fische, und der Zeit trotzende alte Frauen, deren Schminke nach Mitternacht zu zerrinnen begann, die sterbende runzlige Haut zum Vorschein brachte und das glänzende gelbe Gebein erahnen ließ. In Serge gewandete Nonnen. Annette Duplessis, die Claude ertrug. Gefangene in der Bastille, die nach Freiheit schrien. Missgebildete Menschen und entstellte Menschen, ausgesetzte Kinder, die von der dünnen Milch der Pflicht tranken: die danach schrien, aufgenommen zu werden. Es gab Höflinge; es gab Hérault, der Antoinette ein schlechtes Blatt austeilte. Es gab Prostituierte. Es gab Perückenmacher und Kanzlisten, befreite Sklaven, die auf den Plätzen der Stadt fröstelten, Männer, die an den Zollposten der
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