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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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gefahren und kannte sich nicht aus an den Rändern des Städtchens. Güllegeruch, der immer beißender wurde, je weiter sie den Plattenweg ging. Heranwehendes Rindergeblöke, das ihr wie das langgezogene Gähnen versoffener Männer erschien. Hinter einer Biegung die blaßblauen, von Rost durchsetzten Eisenstreben des schon geöffneten Eingangstores der LPG, die »Fortschritt« hieß, wie halb abgeblätterte rote Buchstaben auf einem Metallschild ahnen ließen, das an der Baracke neben dem Tor angebracht war. Von der Baracke ertönte ein unregelmäßiges Knattern. Karin Werth blieb stehen, es waren losgelöste, mehrfach zerrissene Teile des welligen Asbestdaches, die der leichte Wind, der an diesem Morgen die Berge hinabglitt, auf den Untergrund aus Preßspan schlagen ließ. Diese Wörter, dachte sie angewidert – wie hier Fortschritt und all die anderen einstmals kraftvollen Wörter und Namen in den Dreck gezogen, wie sie dem Verfall und der Lächerlichkeit preisgegeben wurden! Sie war mittlerweile so weit, jedes Loch, in dem einmal ein Dübel gesessen hatte, als leere Augenhöhle zu nehmen, als Zeichen eines unwiederbringlichen Verlustes. Sie ging schnell weiter, zu dem Wald hin, der nach ungefähr 200 Metern begann. Dort gabelte sich der Weg. Der nach links abzweigende Steig war ausgewaschen und geröllhaltig, der nach rechts führende breiter und von Reifenpuren geprägt, die, wenn nicht alles täuschte, ein LKW hinterlassen hatte. Forstarbeiter, dachte Karin Werth. Der Bequemlichkeit halber ging sie auf den Spuren voran. Es wurde dunkler, je höher sie kam. Hatten am Fuß der Bergkette, in einigem Abstand voneinander, Laubbäume gestanden, so war sie, die Wanderin, jetzt von eng bei eng emporragenden Fichten und Tannen umgeben, die ihr mit ihren windbewegten, aneinanderstoßenden, teilweise sich sogar verschränkenden Zweigen und Wipfeln den Blick in den Himmel verstellten. Dann aber flutete von vorne, nicht von oben, wieder Licht zu ihr. Überrascht beschleunigte sie ihren Schritt. Sie trat auf eine kleine, nach hinten ansteigende Wiese, und entdeckte an deren Ende eine alte Scheune. Und bewegte sich vor der nicht eine Gestalt? Und was machte die denn, schleppte die, ihrer Körperhaltung nach, nicht etwas Klobiges?
    *
    Um Heiner Jagielka handelte es sich natürlich. Und was er schleppte, das waren Kisten voller Blumen: nicht nur die üblichen prächtigen Nelken allerdings, sondern auch imposante Rosen, Hyazinthen und Narzissen, war es ihm doch in den letzten Monaten gelungen, seine Angebotspalette erheblich zu erweitern.
    Heiner Jagielka zeigte sich nicht weniger erstaunt als Karin Werth, geradezu entsetzt war er, als er sie gewahrte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, wenngleich nur für ein Sekündchen, dann hatte er sich wieder in der Gewalt – zumal ihm jetzt bewußt wurde, wer da eigentlich vor ihm stand. Das war ja wohl genau die hübsche, erhabene Lady, die damals auf dem Marktplatz sich als einzige ganz und gar nicht mit seinem doch ebenso schönen, erhabenen Produkt hatte anfreunden können oder wollen! Ausgerechnet die war ihm also vor die Tür seiner Hexenküche geschneit. Sogleich übernahm Heiner Jagielka die Initiative.
    »Was für eine Überraschung«, säuselte er. »Ich habe ja nicht zu hoffen gewagt, Ihnen noch einmal zu begegnen. Und nun stehen Sie vor mir wie ein – wie ein scheues Reh.«
    Karin Werth verzog das Gesicht, als sei ihr wieder der Geruch von Gülle entgegengeschlagen.
    Heiner Jagielka erinnerte sich, daß diese Dame ja keinerlei Komplimente schätzte, oder deren überdrüssig war, und stellte ihr, nun mit äußerster Vorsicht, eine scheinbar lapidare Frage, eine, die ihm gleichwohl ausgesprochen wichtig war – wie ja sowieso alle wichtigen Fragen vorsichtig in die Welt gelassen werden, allein schon wegen der Angst, man könnte darauf eine unangenehme oder gar verstörende Antwort bekommen. Die Frage lautete, ob Karin Werth sich wohl verlaufen habe.
    »Nicht direkt«, erwiderte sie einsilbig.
    Heiner Jagielka war aufgeschreckt. »Das heißt, Sie sind mit Absicht hier erschienen?«
    »Das kann man auch wieder nicht sagen.«
    Heiner Jagielka warf die Arme in die Höhe und rief theatralisch: »Sie sind mir ein Rätsel, Fräulein, Sie sind mir ein Rätsel!«
    Da mußte Karin Werth ein wenig lächeln, und sie erwiderte: »Sie mir auch.«
    Jagielka tat so arglos, wie es ihm in diesem Moment möglich war – immerhin hatte ihn noch nie jemand hier aufgespürt, immerhin

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