Brüder und Schwestern
drumherum nun herrschte, fielen Willy die Augen zu. Achim tätschelte ihn wortlos, so daß er wieder hochschreckte, und kramte aus der Ecke ein graues filziges Bündel hervor. Er rollte es aus und bedeutete Willy, sich daraufzulegen. Der tat wie geheißen. Wie ein Hund streckte er alle viere von sich, im Nu schlief er ein.
*
Seit einer Stunde lief im »Aufbruch« die Produktion für den »Westenend-Verlag«, und Willy begann seinen üblichen Rundgang. Er war so guter Laune wie lange nicht mehr, er genoß es zu sehen, wie gierig die MAN das straff gespannte Papier zogen, wie sie wummerten vor Freude und stampften vor Kraft, wie sie die weißen Bögen bespritzten mit dem schwarzen Saft ihrer Eingeweide und wie sie sie wieder freigaben, so rauschend und rasch; wahrhaft eine Freude war es ihm heute, dem allem beizuwohnen, und warum?
Äußerst zufriedenstellend hatte sich die Zusammenarbeit mit Overdamm angelassen, darum. Papier und Leinen waren im zweiten Anlauf für ausgezeichnet befunden worden, außerdem war es Willy auch gelungen, eine Lösung für das leidige Problem der Anfahrtmakulatur zu finden, für die bis zu 500 Exemplare, die er laut Zeiller unbedingt an Overdamm ausliefern sollte. Lächerlich hätte er sich vor dem doch gemacht mit solch einer Büchersendung! Aber er mußte sie ihm pro forma anbieten, dafür gab es den Tonfall der Beiläufigkeit, man fragte so ganz nebenher, so zerstreut beinahe: »Wie, Herr Overdamm, wollen wir eigentlich mit der Makulatur verfahren?«
Erstauntes Lachen, blechern klingende Wellen, die von West nach Ost durch die Telefonleitung rollten, und in den Wellen, wie mitgerissene Kiesel, verwundert sich drehende Wörter: »Mit der Makulatur? Warum fragen Sie?« – »Nur so. Ich dachte … vielleicht wollen Sie sie haben?« – »Ich? Was soll ich denn damit?« – »Ach, nichts, nichts …«
Sie lag nun schon in Kisten zu Willys Füßen, die Makulatur, wie immer würde sie zur Gewerkschaft kommen, sollte die sie, ohne großes Gewese diesmal, verteilen.
Und wie er sie so liegen sah, wurde Willy noch munterer, er schlug Jonas Felgentreu, Zweitem Drucker an der Seite Dietrich Kluges, kumpelhaft auf die Schulter und drückte seinen Daumen noch ein paarmal gegen dessen Schlüsselbein, und Jonas gab nach, schwang vor und zurück, verzog nicht die Miene. Das war allerdings eine abweisende Miene. Und sein Vor- und Zurückschwingen, war das vielleicht gar kein Nachgeben, sondern seine Art, Widerstand zu leisten? Du packst mich nicht, riefen seine Knochen, du nicht! Willy vernahm sein lautloses Schreien; mit diesem Jonas war es heute überhaupt nicht anders als an anderen Morgen, an denen er auf Willys Grüße auch nur mit einem kargen Nicken antwortete und sich zu kaum einem Wort bereitfand. Lange Zeit hatte Willy gedacht, der Junge nehme ihm noch die an dunklem Tag und dunklem Ort verabreichte Ohrfeige krumm, aber dann war er von Achim etwas besser ins Bild gesetzt worden. Möge schon sein, erklärte der, daß die Klatsche noch Wirkung tue, aber wenn, dann nur eine kleine. Seiner Meinung nach komme in Jonasens abwehrender Haltung etwas anderes und viel Tieferliegendes zum Ausdruck, wörtlich sagte er: »Auch ich kriege ja diese Abwehr zu spüren. Es scheint mir, als wisse er nicht wohin mit ihr, und weil er es nicht weiß, stemmt er sich gegen diejenigen, die ihm nahestehen oder wenigstens regelmäßig über den Weg laufen. Der Einfachheit halber geschieht es also. Ich mag ihn aber nicht verurteilen, ich kann seinen Zorn, Willy, glaube mir, das ist ein regelrechter Zorn, gut verstehen. Ich muß ihm sogar recht geben. Ich selber zum Beispiel, ich enttäusche ihn durch meine Reglosigkeit. Ich rühre mich ja nicht! Ich sitze in meinem Bahnwärterhäuschen, und die Welt, sie rauscht an mir vorbei. Mein Exil an der Schranke, wenn du so willst. Ich habe mich daran gewöhnt, in dem zu leben, und bin, heute noch mehr als früher, durchaus willens, daraus ein gewisses Maß an Glück zu ziehen, ich betone, ein gewisses Maß. Wie blutleer, zürnt nun aber Jonas. Dein Glück, sagt er, dein weniges Glück holst du dir beim Lesen, du erfährst nichts am eigenen Leibe, das ist doch nur der Anschein von Leben, du hast dich tief in die Wälder zurückgezogen wie ein verschrecktes Tier, du in deiner Höhle bei den Schranken im Wald bist gar kein richtig lebendiger Mensch mehr! Oh, er ist hart in seinem Urteil, mein Sohn, und ich glaube, seine harten Urteile verhärten ihn selber auch immer weiter. Es
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