Brüder und Schwestern
war jetzt fast leer. Schweigend starrten sie auf die Gläser, dann fragte Achim mit belegter Stimme: »Und du hast das Kind noch nie gesehen?«
»Doch, einmal, wenige Wochen nach der Geburt. Es lag im Kinderwagen. Ich habe es in den Arm genommen, und Achim, ich sage dir, das war vielleicht ein seltsames Gefühl. Das Wurschtel war mir nah, weil es ja nur durch mich in der Welt ist, aber zugleich war es mir auch fremd, weil ich wußte, es wird nun sein ganzes Leben ohne mich zubringen. Ich war natürlich traurig in dem Moment, wegen dieses ewigen Nicht-Zusammenseins, aber noch mehr deswegen, weil sich das Körperchen so fremd anfühlte.«
»Du hattest etwas anderes erwartet?«
»Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.« Willy fuhr mit dem Finger über den Rand seines Glases. »Ich weiß nur, daß ich jetzt gar nichts mehr erwarte. Damals, das war ja ein einmaliges Zugeständnis Veronikas gewesen. Danach habe ich noch oft nach dem Kind gefragt. Wie es wohl wächst. Was es denn gerade gelernt hat. Aber das waren immer krampfige Gespräche. Insofern war deine Frage, wie ich mit der Situation klarkomme, durchaus berechtigt. Schon meine Erkundigungen hatten ja was Gehemmtes. Ich konnte mich nie des Eindrucks erwehren, es wäre ungebührlich, sie zu stellen. Deshalb sind es dann auch immer weniger Fragen geworden. Und Veronika erzählte von sich aus erst recht nichts. Nur einmal drängte es sie zu berichten, da erfuhr ich, daß ihr Mann sich schwach zeigt dem Kind gegenüber. Jedenfalls war das zu jenem Zeitpunkt so. Er drangsalierte es, er war offensichtlich derjenige, dem die Situation am meisten zu schaffen machte. Ich sagte, Veronika, ich will das nicht wissen, denn als ich es hörte, hat das Kind, wie soll ich mich ausdrücken, ziemlich in mich hineingepocht, und Veronika verstand das, glaube ich, recht gut und fing nie wieder an, so was, oder überhaupt irgendwas, zu erzählen. Dieses Kind, Achim – mittlerweile tun wir, als existiere es gar nicht. Alles das meinte ich im übrigen, als ich vorhin zu dir sagte, es sei gar nicht so einfach mit mir und Veronika Gapp. Manchmal will mir sogar scheinen, als machte jeder dem anderen insgeheim Vorwürfe, sie mir dafür, daß ich, der Erzeuger, nicht spurlos verschwunden bin, und ich ihr dafür, daß sie mir das Kind vorenthält.«
»Verstehe ich nicht. Ich denke, es verlangt die Frau Gapp so nach dir wie dich nach ihr. Und gleichzeitig sollst du verschwinden?«
»Als damaliger Erzeuger verschwinden, sagte ich. Nicht als jetziger Liebhaber. Ich denke mir heute, da ich das erste Mal jemandem darüber erzähle, sogar, daß wir wegen dieser unausgesprochenen Vorwürfe eine bestimmte Art Sex haben. Es sind manchmal schon Angriffe des einen auf den anderen, körperliche Attacken. Als wollten wir uns bestrafen. Begreife wer will, warum nichts schöner ist als gerade das …«
Erstaunlicherweise war es Achim, der auf die noch vollen letzten Gläser wies, Willy saß derweil reglos und schien seinen Offenbarungen nachzuhorchen. Die Männer stießen an, sie schwiegen.
Dann rief Achim unvermittelt: »Na so was … nur wegen dieser verzwickten Situation … ich habe ganz vergessen … ist es ein Junge oder ein Mädchen? Und wie alt ist es überhaupt?«
»Es ist ein Mädchen. Es heißt Sybille und ist jetzt sieben Jahre alt.«
»Schon sieben«, wiederholte Achim. Aber plötzlich verkniff er das Gesicht, als bedenke oder berechne er irgendeine komplizierte Angelegenheit, und sagte: »Da stellt sich mir natürlich in einem ganz anderen Licht dar, was du mir vor fünf oder sechs Jahren, auf jeden Fall war’s nach der Geburt von dieser Sybille, über Britta erzählt hast!«
Willy schaute ihn fragend aus nun ziemlich glasigen Augen an.
»Deine Angst um sie, immerzu bist du doch in Angst, sie könne auf die Nase fallen, erinnerst du dich nicht, wie du’s mir erzählt hast?«
»… Ach … ja …« Willy nickte schwerfällig.
»Vielleicht liegt es gar nicht nur an Brittas stürmischem Charakter, daß du so auf sie guckst, vielleicht ist es ja außerdem so, daß dein eines Mädchen die ganze Zuwendung für das andere noch obendrauf bekommt. Wo sollst du denn auch hin damit, wenn nicht zu Britta – oder täusche ich mich da?«
Willy wackelte mit dem Kopf und sagte einigermaßen sinnfrei: »Weiß nicht, Britta ist natürlich auch Britta.« Es war unverkennbar, er wollte oder konnte nicht mehr weiterreden, so schwieg auch Achim. In der vollkommenen Stille, die in dem Häuschen und
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