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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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das Papier nicht vertrug, es riß, es knallte, es donnerte; eine Kanonenkugel, die nicht flog, aber im Kordon den Reflex auslöste, sich zu ducken und zu wehren. Auf einmal waren Pistolen zu sehen. Man stand sich gegenüber, zwei Reihen mit Männern, die ihre Arme vorgestreckt hielten, bewaffnete Arme in der einen Reihe, bloße in der anderen. Dann bemerkten die Unkundigen – hervorragendes Merkmal aller Besatzer, sie sind der örtlichen Gegebenheiten nicht kundig –, daß eine Maschine nicht mehr lief und die Gefahr, die vermeintliche, von dort gekommen sein mußte. Der Blonde sprang zu Michael Höft, packte ihn am Hemd und flüsterte: »Freundchen!« Michael Höft machte sich langsam los, wischte sich übers Hemd.
    Später, nach Schichtschluß, gingen seltsame Pärchen durch Gerberstedt, Männer eng bei eng, doch kein Wort miteinander wechselnd. Es waren immer bloß wenige Pärchen auf den Straßen; um jedes Aufsehen zu vermeiden, hatte man sie nur stoßweise aus dem Werk entlassen. Und der Plan funktionierte, kaum jemand nahm Notiz von ihnen, zumal es Januar war und ungemütlich und sich so gut wie niemand draußen aufhielt. So wurden binnen anderthalb Stunden alle Mitarbeiter, die aufrührerischen und selbst jene, die gar nicht hatten streiken wollen, nach Hause geführt.
    Aber einen Zwischenfall hat es doch gegeben. Er ereignete sich auf dem Marktplatz, unmittelbar vor dem Eiscafé »Schoko + Vanille«, im Blickfeld des unverwüstlichen Anton Maegerlein, der auch an diesem tristen Tag seine Bratwürste feilbot. Dort geriet plötzlich eines der Paare aneinander. Derjenige, der abgeführt wurde, blieb nämlich stehen, und bei diesem Kollegen handelte es sich um – Jonas Felgentreu.
    Jonas sagte, er wolle jetzt sofort ein Eis, und er wolle es bezahlt haben.
    Sein Bewacher, der nicht viel älter war als er, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und erwiderte leise, Jonas solle »hier nicht anfangen herumzuspinnen«.
    Er spinne nicht, sagte Jonas. Er rührte sich nicht vom Fleck. Der andere spürte, daß der Bratwurstbrater die Szene verfolgte, und wagte nicht, Jonas anzufassen. Nicht provozieren solle Jonas, verbesserte er sich, es handle sich ja wohl um eine ausgesprochene Provokation, hier und jetzt ein Eis zu verlangen und es sich sogar noch bezahlen lassen zu wollen.
    Da begann Jonas, auf eine infantile, beinahe idiotische Weise zu lachen, ein helles Scheppern, das zehn oder fünfzehn Sekunden über den Marktplatz hallte. Und schlagartig hörte er wieder auf damit und sagte ernst und bockig: »Ich werde wie ein Kind nach Hause geführt, ich bin ein Kind jetzt wieder, da kann ich ja wohl verlangen, mein Eis zu bekommen, ich habe immer Eis bekommen, als ich ein Kind gewesen bin!« Er stampfte mit dem Fuß auf und fügte, seinen Kopf nach vorne stoßend, die Lippen einziehend, noch hinzu: »Pa-pa!«
    Der Bewacher zischte: »Bist du meschugge!« Er zerrte Jonas am Ärmel, aber Jonas wehrte sich. Daraufhin nahm er ihn voller Wut in den Schwitzkasten. Jonas schrie aus Leibeskräften.
    Anton Maegerlein verfolgte das alles aus den Augenwinkeln, er wendete heute seine Würste wahrlich mit besonderer Aufmerksamkeit und Ausdauer. Doch plötzlich wurde die Tür des Eiscafés aufgestoßen. Eine junge Frau stürzte heraus und rief: »Hört auf, hört auf, was soll denn das!«
    Jonas, dessen Kopf am Oberschenkel seines Bewachers klebte, konnte nicht sehen, wer das war, aber die Stimme kam ihm bekannt vor.
    »Gehen Sie weiter, Bürgerin, gehen Sie weiter«, rief der Bewacher zu der Frau. Doch sie scherte sich nicht darum. Sie griff nach seinem Arm und lockerte ihn, wenngleich nicht so, daß Jonas aus dem Schwitzkasten herauskam. »Lassen Sie ihn frei«, forderte die Frau, »was soll denn das!« Wiederum ohne Erfolg.
    Mittlerweile war ihr jemand gefolgt, ein Mann, wie Jonas an Schuhen und Hose erkennen konnte, ungewöhnlich feine Kleidungsstücke waren das, und dieser Mann, dieser Herr griff jetzt ebenfalls ein, indem er mit voller Stimme sagte: »Sofort das kommt zu Ende!« Sein Ton ließ erkennen, daß er es gewohnt war, Befehle zu erteilen, er mußte nicht einmal laut sprechen, um Wirkung zu erzielen.
    Jonas wurde tatsächlich freigelassen. Er richtete sich keuchend auf – und blickte in das überraschte Gesicht Catherine Wehles. Sogleich wandte er sich zu dem Mann, der in ihrem Schlepptau gewesen war: Und der, sieh mal an, schien aus der gleichen Bronze gemacht wie sie, dazu hatte er graue, kräuselige Haare. Catherines

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