Brüder und Schwestern
stumm.
Aber nun fragte er genauso unvermittelt und direkt: »Auf dem Weg hierher bin ich an eurer Gerberei vorbeigekommen. An eurer ehemaligen Gerberei. Wieviel habt ihr eigentlich gekriegt für die?«
Achim lachte tonlos. »Wir? Gekriegt? Keine müde Mark.«
»Und ich dachte, ihr kriegt wenigstens ein Sümmchen, damit ihr Ruhe gebt.«
»Wie sollten wir die nicht geben«, sagte Achim leise. Und wieder schwieg er. Die Sache war jetzt drei Jahre her, aber sie ging ihm immer noch an die Nieren; was waren denn auch drei Jahre verglichen mit mehr als zweihundert, in denen die Gerberei sich im Besitz der Felgentreus befunden hatte. Scham und Schuld empfand er wegen dieser Verstaatlichung, aber das konnte er doch jetzt und hier nicht Bernhard erklären.
Sowieso gab es nur einen außerhalb seiner Familie, der genau darüber Bescheid wußte, und das war Willy, ausgerechnet Willy, dessen Partei Achims Betrieb verstaatlicht hatte. Und war dieser Willy nicht ein hohes Tier im »Aufbruch«, und Achim war nur noch Bahnwärter auf einmal? Da hatte mancher in Gerberstedt einen Krach mit nie wieder gutzumachenden Beleidigungen und Verwünschungen zwischen den beiden erwartet, ein richtiges Getöse. Doch nichts dergleichen geschah, ihre Freundschaft erwies sich als stärker. Seit einer halben Ewigkeit kannte einer das Wesen des anderen, und was darüber lag, war ihnen letztlich bloß Tünche, aufgetragen von der flüchtigen Hand dieser oder jener Zeit, die hatten sie noch immer wegwischen können. Willy, das wußte Achim, war ein anständiger Kerl, der jene von seinen Genossen verfügte Maßnahme mißbilligte. Und so gestand Achim ihm damals auch, weswegen er Scham empfand: Nicht weil er die Produktionsstätte verloren habe, sondern weil er das Erbe seiner Ahnen – Achim sprach in diesem Zusammenhang, und nur in diesem, von Ahnen anstelle von Vorfahren oder noch schnöder von Familie – nicht zu bewahren imstande gewesen sei. Er nahm sogar das Wort Kastration in den Mund: Vor seinen Augen, und ohne seine Gegenwehr, sei den Felgentreus der Saft geraubt worden, der ihren Stammbaum lebendig gehalten habe.
Willy fragte darauf, was das denn heißen solle, ohne Gegenwehr? Wie Achim denn welche hätte leisten sollen. Kein Grund bestünde für eine Selbstanklage, nicht der geringste.
Achim erwiderte, er wisse durchaus, daß ihm die Hände gebunden gewesen seien, aber er wolle nicht in einen ständigen Haß auf alles um sich herum verfallen, auf das nicht Änderbare, lieber begreife er sich selber als schwaches Glied, das sei besser für ihn.
Könne er sich nicht vorstellen, sagte Willy.
Sei aber so. Weil er, Achim, ja tief in sich drin von seiner Unschuld wisse. Demzufolge werde er nun ohne übermäßigen Haß durchs Leben gehen und in Wahrheit auch ohne Scham.
Und da hatte Willy ihn sehr traurig angeguckt, denn dieses Gedankengebäude seines Freundes, das schien ihm doch stark einsturzgefährdet zu sein.
Weit lief Achim seitdem jeden Tag, zwei Kilometer raus aus Gerberstedt in die Stille des Bahnwärterhäuschens, aus dessen Mauern er hier und dort die Backsteine schon einzeln ziehen konnte, als seien es Kassiber, so morbid war das Gemäuer. Wollte er wirklich nichts mehr tun außer die ihm anvertrauten Schranken alle sieben oder zehn oder fünfzehn Minuten zu schließen und wieder zu öffnen? Nein, mehr wollte er nicht. Bloß noch die Schranken betätigen und zwischendurch lesen und still für sich nachdenken mochte er, und zu diesem Zwecke kriegte er auch regelmäßig druckfrische Bücher aus dem »Aufbruch«, darunter nicht selten welche, nach denen die ganze Republik hungerte, von den Parteiführern als heikel eingestufte und deswegen nur in geringer Auflage produzierte Werke. Willy brachte sie ihm, wenn Achim Nachtschicht hatte, recht achtlos warf er sie ihm hin. Achim fuhr dann jedesmal zusammen. »He, malträtier das Buch doch nicht so«, rief er, und Willy: »Reg dich nicht auf, davon hab ich genügend, außerdem kommt morgen schon die nächste Schwarte.«
Achim drehte jetzt seine Handteller nach oben, ließ die Hände wieder fallen und sagte geradezu fatalistisch: »Bernhard, Lieber, Sozialismus, das ist Ohnmacht plus Desillusionierung.«
Bernhard aus Bayern konnte ihm zwar vollinhaltlich beipflichten, ganz leicht fiel ihm das, aber die Anspielung auf Lenin verstehen konnte er nicht, denn Lenin, der gehörte nun wahrlich nicht zu seiner Lektüre. So nickte er nur.
Herbert Rabe dagegen hatte die Anspielung begriffen.
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