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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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Antonio da hervor. Er schaute mich mit leuchtenden, hoffnungsfrohen Augen an, und ein elender Schmerz durchfuhr mich. Kaum sprach Antonio also, kaum war, glücklicherweise, das Steinerne aus seinem Gesicht gewichen, verlangte er schon nach Freiheit, nach dem, was ich ihm niemals würde verschaffen können. Wie sehr mußte es ihn hier heraus drängen! Und ich hatte vermutet, er habe sich längst an die Gegebenheiten im Kerker gewöhnt und erinnere sich schon nicht mehr des freien Lebens, das zu führen ihm nur in frühester Kindheit vergönnt gewesen war.
    »Vielleicht später«, antwortete ich ihm, bemüht, keine Traurigkeit aufkommen zu lassen.
    Antonio aber wiederholte: »Lluft.« Er deutete mit der Hand auf das Rohr. »Lluft für uns. Ffenster ist zu, immer und immer.«
    Mir stockte der Atem, aber nicht, weil ich mich so dramatisch geirrt hatte und seine Gedanken überhaupt nicht so weit schweiften, wie von mir vermutet worden war. Vielmehr stockte mir der Atem wegen einer mir vertrauten Redewendung. »Immer und immer«, das war genau die Wortwahl, und sogar der Tonfall, seiner Mutter Meta gewesen. Ich erinnerte mich, wie gern sie »noch und noch« und »wieder und wieder« und »nicht und nicht« gesagt hatte. Ganz weich klang sie dabei. Einmal zum Beispiel, das war zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit Salo, ihrem späteren Mann, berichtete sie mir zornesrot von einer grausamen seelischen Verletzung, die er ihr zugefügt habe und die es ihr unmöglich mache, weiter mit ihm zu verkehren. »Nie und nie« wolle sie ihn mehr sehen, erklärte sie mir mit der größten Aufrichtigkeit, doch erkannte ich gerade an diesen kurzen Worten, die sie lang und länger zog, wie sehr sie ihn liebte. In den Tagen darauf hörte ich von ihr, er stünde »dauernd und dauernd« vor ihrer Tür, die sie nicht öffne, und bitte sie um Vergebung, aber da könne er lange warten, »nie und nie« werde sie ihm verzeihen. Jemand, der Meta nicht kannte, hätte meinen mögen, sie sei fürchterlich genervt und sogar angewidert von Salo, mir aber war nun endgültig klar, was geschehen würde; und tatsächlich, wenig später ließ sie ihn ein, und noch ein wenig, wahrhaft nur ein wenig später, beide sprachen mir gegenüber in aller Offenherzigkeit von fünf Minuten, zeugten sie Antonio. Mit einem Wort, Antonio hatte Metas Marotte unbewußt übernommen; in all den Jahren seiner Haft hatte er sie also in sich verwahrt, und nun, beim ersten sachten Angestupstwerden, holte er sie hervor und zeigte sie herum, zeigte sie, ohne zu wissen, von wem sie eigentlich stammte. Oder wußte er es? Reichte seine Erinnerung, wenn man ihr nur auf die Sprünge half, doch so weit zurück? Aber war es denn überhaupt sinnvoll, ihr auf die Sprünge zu helfen? Mußte er nicht daran zerbrechen, in seiner hoffnungslosen Lage das Glück vor Augen geführt zu bekommen, in dem er einst geschwommen war? Alle diese Fragen schossen mir durch den Kopf. Ich nahm mir vor, in Ruhe darüber nachzudenken. Um jetzt nichts Unbedachtes zu sagen oder gar Meta oder Salo zu erwähnen, trat ich vor das Rohr und hielt mein Gesicht demonstrativ so, wie Antonio vor einigen Minuten das seine gehalten hatte. In der Tat spürte ich einen Lufthauch. Ich bemerkte nun auch, daß die auf dem Tisch stehenden Kerzenflammen von dem Hauch erreicht wurden, denn sie flackerten beständig in eine Richtung. Plötzlich bogen sie sich andersherum; die Tür war aufgestoßen worden. Ein Wachmann erschien und breitete eine weiße Leinendecke über den Tisch, wobei er mich gleichmütig fragte, ob ich am heutigen Mittagessen teilzunehmen wünsche. Ich bejahte und fügte hinzu, ich würde dies, wenn es erlaubt sei, fortan gern regelmäßig tun. Der Grund dafür war ein einfacher: Natürlich hoffte ich, im Laufe der Zeit Einfluß auf das höchst ungesunde Eßverhalten Antonios nehmen zu können. Mir wurde aber lapidar erklärt, darüber habe allein der Oberste zu entscheiden.
    Man trug die Vorspeise auf, eine Pilzsuppe. Antonio und Gomus schlürften beim Löffeln um die Wette, und Antonios dicker Kopf hing währenddessen derart nahe über der Schüssel, daß seine Stirn fast deren Rand berührte. Er löffelte so mechanisch, wie eine Uhr tickt. Nachdem er, eher noch als Gomus, mit der Suppe fertig war, goß er seinen großen Holzbecher mit Wein voll und trank ihn leer, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Und wie selbstverständlich ließ er es wenig später geschehen, daß der Teller, auf den man ihm ein

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