Brüder und Schwestern
Bundis. Natürlich überträgt ditt Westradio. Ick klemm mir mein ›Micky‹ ans Ohr und zieh mir die Bettdecke übern Kopp. Ick will allett jenießen. Ick stell mir jeden Spielzuch vor. Die meisten andern schlafen schon. Jedenfalls hörnse nich Radio. Is janz dunkel und leise im Zimmer. Plötzlich jeht die Tür uff, und son Trainer kommt zur Kontrolle rin. Der hört mein Radio und nimmtet mir weg. Ick sage, is Fußball, da grienter und sagt, ick weeß, deshalb zieh ick ditt ja ein, weil jetz Fußball nämlich nur im Westradio läuft. Ick jebe nich uff und sage, ick bindo für die Engländer, ick bin nich für die Bundis, könnse glooben, ick rattre ihm die Namen runter, Banks, Moore, Bell, Peters, Hurst, Lee, aber der sagt, keene Schanks, is Westradio. Wo sollick denn England hörn, wenn nich in dem, sage ick, aber ick merke, der gloobt mir nich, der grient nur überlegen. Dabei hatter in seim Zimmer wahrscheinlich selber jehört – und wenner jehört hat, warer bestimmt nich für die Engländer. Hamm ja ooch verlorn, aber ejal, is allett schon ewig her.«
Peter Schott nahm einen langen Schluck Bier. Seine Geschichte war zu Ende. Aber nun hielten wohl die anderen schon ihre Geschichten parat, sie würden sie hin und her fliegen lassen in den kommenden Stunden, denn genau dazu hatten sich die Männer ja hier im »Interhotel« eingefunden: Um mal wieder aus dem Gleichmaß auszubrechen, mit dem sie auf ihren Kähnen unterwegs waren, aus der Wortlosigkeit, die sich zwangsläufig einstellte, wenn man wochenlang aufeinanderhockte, und der Dieselmotor ohne Unterlaß tuckerte, und die Heckwelle immerfort gurgelte, gewiß, das alles war ausgesprochen romantisch, aber eintönig, eintönig war es doch auch.
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Aus dem Romanmanuskript »Das verschlossene Kind«: 3. Kapitel:
Dann stand ich vor ihm. Das erste, was mir auffiel, waren sein unförmiger, massiger Körper und seine schweren Wangen, die ihm wie Säcke nahezu bis unter die Kiefer hingen. Sie waren einerseits fahl wie Mehlteig, andererseits von blutroten Äderchen durchzogen. Zwischen jenen Gewichten des Körpers und des Kopfes wirkte der Hals wie eingedrückt, wie zu einem Stumpen gepreßt. Nach allem aber, was ich mir in den letzten Tagen an Verstörendem vorgestellt hatte, war dieser Anblick durchaus erträglich, und erklärlich war er mir dank der Informationen, die ich von Vestis erhalten hatte, auch. Das Schwere, Hängende und Geäderte Antonios mußte die Folge seiner jahrelangen Mast und seiner ständigen Alkoholzufuhr sein. Für beides konnte er nichts. Hinzu kam, daß ihm, Tag und Nacht in der Zelle gehalten, so gut wie jede Bewegung versagt blieb; und schließlich trug auch seine Kleidung dazu bei, ihn plump und feist erscheinen zu lassen. Es war die Kleidung eines Höflings: Man hatte den Jungen in weite kobaltblaue Pluderhosen und ein ebenso blaues Hemd mit ebenso weiten, allerdings gelb abgesetzten Ärmeln gesteckt, die wie die Flügel einer ruhenden Fledermaus an ihm herabhingen. Der hohe Kragen des Hemdes stand eng an den Wangen und war auf eine steife Art gekräuselt; er mußte, sobald Antonio sein Gesicht neigte, in seine Haut drücken und darin ein bizarres Muster hinterlassen. Indes rührte Antonio sich nicht im mindesten. Während der ganzen Zeit, in der ich ihn musterte, stand er wie angegossen und musterte wiederum mich. Musterte? Er empfing mich mit einem Ausdruck, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. In seinem unförmigen Gesicht lagen grenzenlose Überraschung, unbändige Freude, heilloses Entsetzen, strahlende Neugierde, finsterste Furcht, alles zugleich. Nie zuvor hatte mir ein Mensch während eines einzigen Augenblicks widerstreitendere Gefühle gezeigt, nie zuvor hatte sich jemand in seiner ganzen Verwirrung schonungsloser offenbart. Ich sah nur noch diese Gefühle und nicht mehr das Gesicht, so wie man in einem Buch, das man gebannt liest, nur die Buchstaben sieht und nicht das Papier, auf das sie gedruckt sind. Ich spürte, wie eine Welle der Zuneigung mich erfaßte. Mir war, als habe sich Antonio mir soeben schon anvertraut, und das erschien mir um so überraschender und großartiger, da er doch in den vielen Jahren seiner Haft außer Gomus, Vestis und dessen in die Verrücktheit gefallenem Vorgänger keines Menschen ansichtig geworden war. Gewiß, den Wachmann hatte die Verrücktheit ereilt, und auch von Antonio hieß es, er sei längst verrückt, aber sind denn Verrückte fähig zu einer solchen Hinwendung? Ich bezweifelte
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