Brüder und Schwestern
das. Ich jubilierte innerlich darüber, daß Antonio wider alle Befürchtungen wohl doch noch nicht verloren war, und die tiefe Zuneigung und die große Erleichterung, die ich empfand, führten dazu, daß mir mit einemmal Tränen in die Augen stiegen. Daraufhin geschah etwas vollkommen Unerwartetes: Antonio versteinerte. Er versteinerte langsam, es war, als ziehe sich ein Fluß aus seinem Bett zurück, so verschwand zusehends alles Lebendige aus seinem Gesicht. Schließlich starrte er mich stumpf und wie ausgetrocknet an. Ich versuchte, ihm zuzulächeln, erhielt aber keine Antwort. Sein fortgesetztes Starren machte mich hilfloser, als es mich gemacht hätte, wenn zuvor nicht der lichte Moment des Überschäumens gewesen wäre. Ich wußte nicht, wie Antonio weiter begegnen, also trat ich zwei Schritte in die Mitte der Zelle und drehte mich um die eigene Achse, somit anzeigend, daß ich mir nun erst einmal die Einrichtung besehen wolle. Sie bestand aus einer schmalen eisernen Pritsche für Antonio und zwei breiteren hölzernen Liegen für die Wachleute, einem quadratischen Holztisch und vier Holzstühlen. Auf dem Tisch und auf zwei schmucklosen kupfernen Haltern an den Seitenwänden brannten Kerzen. Und das war auch schon alles. Mein Blick fuhr, um noch nicht zu Antonio, der Mumie, zurückkehren zu müssen, an der Wand entlang. Dort entdeckte ich einen aus dem Gestein ragenden rostigen Rohrstummel. Ich wandte mich nun doch an Antonio und fragte ihn: »Was ist das?« Weder äußerte er sich, noch zeigte er eine Regung. »Antworte, Verfluchter«, brüllte auf einmal Gomus, der auf seiner Liege saß. Antonio öffnete den Mund und wich erschrocken zurück. Ich machte Gomus gegenüber eine beschwichtigende Geste. Sodann kratzte ich mit dem Finger am Rohr und fragte Antonio: »Wasser?« Er schüttelte den Kopf. »Kein Wasser?« Er bestätigte, schwerfällig und doch deutlich vernehmbar: »Keinn Wwasser.« Ich triumphierte ein zweites Mal. Antonio sprach mit mir! Antonio redete! Jedoch zwang ich mich nun, jede sichtbare Reaktion, und sei es die puren Glücks, zu vermeiden, um unseren fragilen Austausch ja nicht zu unterbrechen. »Also kein Wasser. Aber was dann?« Antonio lief mit seltsam anmutenden Trippelschritten unter das Rohr, das sich oberhalb seiner Arme befand, und streckte diesem sein Gesicht entgegen. Ich fragte ihn, was er meine, da blickte er furchtsam zu Gomus. Und daran spürte ich, daß er dabei war, zu mir Vertrauen zu fassen. Gewiß, er schaute zu Gomus, aber indem er das tat, zeigte er mir, ausdrücklich mir seine Furcht. Jedenfalls legte ich es so aus. Bat er mich vielleicht sogar um Hilfe? Ich bedeutete Antonio, er möge sich auf einen Stuhl setzen, nahm, nachdem er Folge geleistet hatte, ebenfalls Platz, und sagte: »Heute ist ein besonderer Tag, Antonio. Ein Tag heller Freude. Alles wird anders für dich. Nicht alles, verzeih mir, ich muß mich verbessern. Du wirst weiterhin hier in diesem Zimmerchen leben, und Gomus und Vestis werden auch hier bleiben. Ich hingegen werde nicht hier leben, aber ich werde jeden Tag hier erscheinen, immer am Vormittag, nur nicht an den Sonntagen. … Weißt du eigentlich, was ein Sonntag ist? Antonio, höre, ich bin mir nicht darüber im klaren, was du verstehst, aber ich rede einfach so vor mich hin, als verstündest du, das ist wohl das Beste. Hier in diesem Zimmerchen darf jetzt nämlich geredet werden. Es soll sogar geredet werden, nach Herzenslust. Deshalb bin ich hier. Du brauchst also keine Angst zu haben, dich zu äußern. Auch an Gomus und Vestis darfst du dich wenden. Sie sind nunmehr von der Pflicht zu schweigen entbunden. Auch ihnen wurde erlaubt, mit dir zu reden. Gewiß, so verhält es sich. Mehr kann ich dir in diesem Moment gar nicht sagen … ach, eins noch, beinahe hätte ich es vergessen: Ich heiße Karandasch. Karandasch. Wenn du mich meinst, und nicht Gomus oder Vestis, sagst du einfach: Ka-ran-dasch.«
Ich nickte ihm aufmunternd zu, doch er schaute abermals angsterfüllt zu Gomus. »Gomus«, fragte ich, »entspricht es der Wahrheit, was ich soeben erklärt habe? Wenn es der Wahrheit entspricht, dann zeige es uns durch ein Nicken an.«
Gomus nickte widerwillig.
»Siehst du«, rief ich zu Antonio, »siehst du! Gomus muß sich auch erst an das Neue gewöhnen, genauso wie du, aber das wird ihm gelingen. Alles wird sich einspielen, und bald werden wir hier sitzen und miteinander reden, als hätten wir nie etwas anderes getan.«
»Lluft«, stieß
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