Brüder und Schwestern
Gespenster gesehen? Aber durch den letzten Satz war er doch wieder in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. »Gras – über welche Sache?« fragte er dunkel.
»Du bist ja wirklich verwirrt«, murmelte Matti. »Über Ruths Tod natürlich.«
Willy stöhnte: »Ruths Tod, ja, du siehst es mir an … und warum soll ich es auch leugnen … ich bin noch verwirrt deswegen, und so verstehe ich auch nicht, was das zu bedeuten hat mit dem verschlossenen Kind. Aber nun, da du das Thema aufgebracht hast, wollen wir es auch richtig durchsprechen, denn wenn ich nicht wüßte, was hier in dem Papier steht, wäre ich nur noch mehr aufgewühlt in den nächsten Tagen. Also bitte, erzähle mir davon, ich verspreche dir auch, dich nicht mehr zu unterbrechen.« Er gab sich die größte Mühe, Matti aufmunternd anzuschauen.
Matti erzählte von Antonio und Karandasch, und je länger er redete, um so mehr entspannten sich die Gesichtszüge seines Vaters. Bald schien der ihm erfreut und geradezu heiter zu lauschen.
Nachdem er geendet hatte, rief Willy lauthals: »Großartig, das ist ja wirklich großartig, mein Sohn, das ist ein Ding, ich bin stolz auf dich, richtig stolz!«
»Nun mal langsam, du hast doch noch keine Zeile gelesen. Vielleicht taugt es gar nichts. Vielleicht ist es Schrott. Wir sollten durchaus davon ausgehen …«
Statt einer Antwort fing Willy scheppernd zu lachen an, und dabei riß er sein Mündlein dermaßen auf, daß er sogar die faltigen Segel seines Gaumens blicken ließ, wenigstens zum Teil.
Matti erschien das nicht weniger bestürzend als die vorherige Düsternis: Willy, danach sah’s aus, war wohl gerade nicht ganz bei Sinnen, so wie er juchzte, so wie es ihn schüttelte am ganzen Körper bis in die Fingerspitzen hinein.
Willy ließ sein Lachen mit ein paar schmatzenden Lauten ausklingen. »Du hast also einen Roman geschrieben, mein Sohn, was für eine Überraschung, wie kommst du denn dazu – ja wie bist du denn dazu gekommen? Das mußt du mir schon auch noch erklären, wenn’s recht ist!«
»Den Anstoß«, Mattis Gesicht färbte sich leicht rötlich, »hat mir meine ehemalige Deutschlehrerin gegeben …«
»Karin Werth? Doch nicht etwa Karin Werth?« unterbrach ihn Willy.
»Karin Werth, richtig.« Matti erzählte, wie er sie zufällig kurz vor ihrem mysteriösen Verschwinden im »Schoko + Vanille« getroffen hatte; aber alles, was danach passiert war zwischen ihr und ihm, behielt er lieber für sich.
»Und seitdem hast du nichts mehr von ihr gehört?« fragte Willy gespannt.
»Nur daß sie im Westen sein soll.«
»Und soll ich dir vielleicht sagen, was sie jetzt treibt? Soll ich’s dir sagen? Ich weiß das.«
Jetzt war es aber Matti, der erschrak. Ihn durchfuhr eine Hitzewelle, damit hatte er nicht gerechnet, nicht mehr. Sie steckte also immer noch in seinem Körper, Karin Werth, er hatte damals binnen weniger Stunden eine Überdosis dieser Frau eingenommen, und das Abbauen jener erregenden Substanz, das er Britta gegenüber voller Aufrichtigkeit für beendet erklärt hatte, dauerte in Wahrheit noch an. Vielleicht würde es nie abgeschlossen sein?
»Ich kann’s dir sagen, wenn’s dich interessiert, denn ich kenne jemanden, der täglich mit ihr zusammenarbeitet. Und daß er’s tut, hehe, das hat deine Lehrerin sogar mir zu verdanken, wenn auch nur zu einem kleinen Teil. Da staunst du, was?«
»Da staune ich.«
»Sie ist Lektorin im ›Westenend-Verlag‹, du weißt, wir drucken für den. Was für ein Zufall! Erst ist sie spurlos verschwunden aus Gerberstedt, und jetzt arbeiten wir gewissermaßen zusammen.«
Matti schüttelte ungläubig den Kopf: »Tatsächlich, was für ein Zufall. Aber vielleicht auch nicht? Sagtest du nicht, du hättest dabei deine Finger im Spiel gehabt?«
»Ach, das war eine Übertreibung.« Und Willy erzählte ihm, wie Heinrich Overdamm sich im Anschluß an eine beinharte Verhandlung, sozusagen zur Entspannung, nach ihr erkundigt und wie daraufhin er selber, allein schon um der Atmosphäre willen, nur das Beste berichtet hatte – übrigens mit einem Verweis auf ihn, Matti.
Der wunderte sich ziemlich. Wußte Willy etwa, wie sehr er an Karin Werth hing? Er sollte es nicht wissen, denn es war nun schon seit Jahren ein Geheimnis, zwar kein peinliches, doch je länger etwas ein Geheimnis ist, um so mehr achtet man darauf, daß es nicht gelüftet wird, man dreht sich in sein Geheimnis hinein wie ein Holzwurm in ein altes Brett, immer tiefer. »Was denn für ein
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