Brüder und Schwestern
Flur zu deponieren. Nachdem diese Arbeit erledigt war, troffen beide vor Schweiß, und wie sie da so im Flur standen, sagte Karin Werth: »Jetzt stinke ich bestimmt grauenvoll.«
»Das ist kein Gestank«, entfuhr es Matti.
Sie sah ihn überrascht und leuchtend an, aber nur einen Augenblick. Dann tat sie, als habe sie gerade das Allergewöhnlichste gehört, und beschied: »Trotzdem, ich will duschen.«
Karin Werth machte sich auf ins Bad, drehte sich freilich, bevor sie dort hineinging, noch einmal zu ihm um: »Ich kann nicht wie ein dreckiger Bauarbeiter über einem Manuskript sitzen, weißt du. Ich hätte das Gefühl, es zu beschmutzen, ihm nicht gerecht zu werden, deshalb muß ich jetzt duschen. Du mußt das auch tun. Und wenn es heute schon das zweite Mal ist, du bist es deinem Text schuldig. Gleich nach mir duschst du, einverstanden?«
Und verschwunden war sie. Matti wußte nicht, was er von dieser Wendung halten sollte. Einerseits erschien ihm Karin Werths Begründung vollkommen triftig, andererseits konnte er sich nicht des Gedankens erwehren, daß da noch etwas mitschwang, etwas Ungesagtes. Hatte sie vorhin nicht zugegeben, kein Konzept für ihre Begegnung zu haben? Das bedeutete doch, sie ließ ihm freie Hand, in allem. Er konnte ihr jetzt also gut und gerne ins Bad folgen. Hatte sie ihn eben mit ihrem kurzen Blick nicht sogar darum gebeten? Er hörte das Prasseln der Dusche und sah sich zu Karin Werth treten, ihm fiel ein, daß wie damals Wasser um sie sein würde, wenn sie sich vereinigten, da erstarb das Geräusch.
Wenig später öffnete sich die Tür, und Karin Werth erschien vollständig bekleidet und mit einem frischen Lächeln, damit war die Gelegenheit, oder die Gefahr, erst einmal vorüber. Matti aber mußte sich zu seiner Schande eines eingestehen: daß er ja genausowenig ein Konzept hatte wie Karin Werth und daß er vom Fluß der noch folgenden Geschehnisse dahin oder dorthin gespült werden konnte.
Als er nach dem Duschen ins Wohnzimmer kam, hatte sie sein Manuskript auf den Schreibtisch gelegt. Dort standen nun auch eine große mit Wasser gefüllte Karaffe und zwei Gläser, alles aus schwerem böhmischem Glas.
Er setzte sich wortlos neben Karin Werth. Sie legte ihre Hände auf den Papierstapel, besitzergreifend, fürsorglich, und schaute Matti von der Seite an: »Zunächst will ich dir sagen, daß du mich damit«, sie hob ihre zehn Finger und drückte sie gleich darauf um so stärker auf das Manuskript, »ganz schön in die Bredouille gebracht hast. Das gefährlichste Lektorat meiner zugegeben noch kurzen Laufbahn! Ich war ja schon gekauft durch den Namen des Autors und durch die Wahl des Themas. Beides mein, in gewisser Weise. Alles schon mit meiner grundsätzlichen Zuneigung versehen. Und dann ist das Manuskript, mit bestimmten Einschränkungen, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde, auch noch gut. Wenn es doch schlecht gewesen wäre! Wenn ich es hätte ablehnen können! Dann hätte ich mich nämlich nicht dauernd, ungelogen, dauernd fragen müssen, ob es nun meine grundsätzliche Nähe zu dir und dem Thema ist, die mich derart positiv urteilen läßt, oder ob es an dem Text selber liegt. Je mehr ich ihn mochte, um so skeptischer wurde ich ihm gegenüber. Weil ich dem Mögen nicht traute. Also gab ich das Verschlossene Kind an noch diesen und jenen im Hause. Und siehe, das Echo war geteilt – aber gräm dich nicht, gräm dich nicht, das ist öfter so, als du vielleicht denkst. Und sowieso kommt jetzt erst das Entscheidende: Eine hitzige Debatte entsteht, in deren Verlauf ein Kollege vehement erklärt, dieser Roman kranke daran, daß er in einer unbestimmten Zeit und in einem unbestimmten Land spiele, aber nicht die für gerade solche Romane unbedingt nötigen neuartigen, originellen Gedanken enthalte. Nichts, was einem die Zeit, in der wir leben, über den weiten Umweg der Zeitlosigkeit erhellte. Immer wieder die schon tausendmal und öfter beschriebene Ohnmacht des einzelnen gegenüber brutalen und stupiden Systemen. Und da weiß ich plötzlich, warum ich den Text gut und wertvoll finde, und ich begründe es, vor mir und den anderen: Weil mir darin sogar mein eigenes Handeln und meine eigene Scham erklärt werden. Ja, sage ich, nie zuvor habe ich gelesen, wie ein System dem, der es reinen Herzens verflucht und bekämpft, zugleich ein abgrundtief schlechtes Gewissen bereitet. Es zwingt einen selbst in den besten und wichtigsten Momenten, Menschen, die einem nahestehen, zu
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