Brüder und Schwestern
enttäuschen. Karandasch hängt an Antonio, nicht wahr, und trotzdem macht er sich schuldig ihm gegenüber, den er doch befreien will – gerade weil er ihn nämlich befreien will. So lange muß Antonio ohne Sinn Steine schleppen, Kapitel 12 ff., so lange, und nur Karandaschs wegen, denn Karandasch hat sich in der Zelle verplappert und die Sicherheitsmaschinerie sträflich unterschätzt. Und nun erhebt dieser Karandasch die schärfsten Vorwürfe gegen sich, Vorwürfe, die er eigentlich gegen das System erheben müßte, das ihn und das Kind erst in jene erbärmliche Lage gebracht hat. Wie ich das kenne, sage ich, wie ich das kenne! Auch ich werfe mir vor, auch ich habe einst einmal unterschätzt. Der Mann, der mir zur Flucht verhelfen wollte, mußte ja mit mir in den Bau. Aber klage ich deswegen das System an? Mich klage ich an, nur mich, immer und ewig mich, ich sehe ab vom Grundübel und martere mich! Das alles bricht aus mir heraus, damals in der Besprechung. Und nimm doch auch uns beide, von uns habe ich damals natürlich nicht gesprochen. Wie du mich wegen meines Schweigens und Gehens über Jahre der Falschheit bezichtigt hast, die ganze Zeit hatte ich das doch schon geahnt! Es war so menschlich, daß du das getan hast, aber verkehrt war es trotzdem. Töricht sogar! Weil du die eigentliche Ursache übersehen hast. Sie lag fernab von uns beiden. Und es stimmt deshalb auch nicht, was du vorhin sagtest – daß ich aus deiner und meiner Idee hinausgeflüchtet wäre. Ich bin dahin gegangen, wo man nicht schweigen muß, das ist ein Wert, und was das für ein Wert ist! Deiner! Wenn man es genau nimmt, hast du in deinem Roman, gewissermaßen unterhalb der spannenden Geschichte, oder mit ihrer Hilfe, alles durchdrungen, alle Mechanismen, aber im eigenen Leben hast du es glatt wieder vergessen … als hättest du niemals begriffen … aber was sage ich, wo bin ich überhaupt gelandet? Weit weg von den Seiten, die du geschrieben hast, laß mich zurückkommen auf die, laß mich endlich richtig anfangen …«
»Warte«, rief Matti, »warte noch kurz. Ich muß dich korrigieren. Ich habe das alles überhaupt nicht so durchdrungen. Was du da hineininterpretierst, geht weit über das hinaus, was mir beim Schreiben durch den Kopf geschwirrt ist. So weitreichende Gedanken habe ich nie und nimmer gewälzt. Soll ich dir sagen, worum es mir nur ging? Ich wollte einfach dieses Kind-Gefängnis-Thema bearbeiten, nur dieses Thema, das war der Ursprungsgedanke. Und dann lief das einfach so weiter. Nochmal, du hegst Illusionen, wenn du mehr darin vermutest.«
»Ha«, sagte Karin Werth feurig, »dann muß jetzt aber ich dich korrigieren. Wenn du einfach nur dieses Thema bearbeiten wolltest – warum hast du dich dann nicht auf die geistige und körperliche Entwicklung Antonios konzentriert? Gib zu, das hätte nahegelegen. Das wäre auch das Einfachste gewesen. Aber du hast ihn beziehungsweise Karandasch der Zensur unterworfen und einem Überwachungsapparat, du hast seine Eltern einer Freiheitsbewegung zugeordnet. Und warum? Weil das natürlich ein Ausdruck deiner eigenen momentanen Verfassung und Haltung ist, ein unbewußter Ausdruck meinetwegen, aber doch ein unverkennbarer und deutlicher. Ja, alles hat einen tieferen Grund, und dieser Grund ist dein Zorn über die Zustände bei dir da drüben … hier. Ja. Vor uns haben wir, um es mal pathetisch zu sagen, das Buch eines Leidenden …«
»Eines Leidenden …« Matti verzog das Gesicht.
»Um es mal pathetisch zu sagen, sagte ich.«
»Du bist bisher nicht durch Pathos aufgefallen.«
»Dann wiederhole ich dir ganz sachlich: Dieses Buch spiegelt deine innere Befindlichkeit. Es entspringt deinem Leben. Mag auch alles erfunden sein – zugleich ist es wahr.« Karin Werth warf die Hände in die Höhe und rief lachend: »Herrlich, daß man den Autoren immer erklären muß, was sie eigentlich geschrieben haben. Sie verstehen nichts von den Texten, die sie fabrizieren, gar nichts, aber wirklich!«
Matti dachte, daß sie entschiedener und urteilsfreudiger geworden war, jedenfalls, was Wörter und Sätze anging, und das sagte er ihr: »Damals bist du zweifelnder gewesen. Jetzt kommt man kaum noch gegen dich an.«
»Ist das tatsächlich so?« fragte Karin Werth.
Matti nickte.
»Das hat mir noch niemand gesagt … aber es hat ja auch niemand außer dir den Vergleich. Ich muß mich jetzt durchsetzen, vielleicht rührt es daher. Früher ging es ums Recht am Zweifeln, ums leise Widersetzen, und
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