Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
Vom Netzwerk:
gestellt worden, einfach dadurch, daß Matti sich zu den Männern gedreht hatte, deren Einspruch er es verdankte, überhaupt noch einmal zu Wort gekommen zu sein.
    Spahner wußte, er sollte jetzt unbedingt etwas sagen. »Ja«, hob er an, »also … das ist also Ihre Version …«
    »Das ist die Wahrheit«, erwiderte Matti, »ich habe diesbezüglich sogar ein Zeugnis.«
    »Ein Zeugnis?« Spahner schniefte.
    »Dieses Zeugnis ist im ›Neuen Deutschland‹ vom Zweiten Siebenten Siebenundachtzig abgedruckt, woanders auch noch, aber ich habe Ihnen das ND genannt, weil ich davon ausgehe, daß Sie das lesen oder zumindest halten. Es ist natürlich der Wetterbericht für den nächsten Tag. Übrigens kenne ich ihn selber nicht. Und trotzdem weise ich auf ihn hin? Gerade deshalb! Daraus können Sie entnehmen, ich habe ein absolut reines Gewissen. Alles, was ich sage, entspricht meiner tiefen Überzeugung und ist garantiert überpüfbar. Was dagegen der Kollege Lingsohr gesagt hat, ist reine Interpretation – Fehlinterpretation.«
    Lingsohr sprang auf. »Eine Frechheit! Da hast du dir ja eine tolle Ausrede ausgedacht! Das Wetter, großartig! Du führst zu deinen Gunsten nichts als das Wetter ins Feld, und mich, mich bezichtigst du der Lüge – aber ich sage dir und allen hier: Du bist derjenige, der lügt! Wie lange hast du gebraucht, um deine Sprache wiederzufinden? Fünf Minuten? Zehn? Mindestens! Erst bist du ewig sprachlos, und dann fängst du an, vom Wetter zu reden, das spricht doch Bände!« Er schaute entschlossen zu Spahner und Bröslein.
    »Das scheint mir auch bezeichnend zu sein«, erklärte der Direktor. »Außerdem glaube ich nicht, daß es der Kollege Lingsohr verdient hat, jetzt auf einmal von Ihnen als Lügner an den Pranger gestellt zu werden – ausgerechnet von Ihnen.«
    »Ich stelle ihn nicht an den Pranger. Wenn ich sage, Lingsohr hat etwas falsch interpretiert, dann sage ich damit noch lange nicht, daß er lügt. So etwas würde ich niemals behaupten. Selbst wenn ich es dächte, würde ich ihm das nicht vorwerfen, denn ich kann es ja nicht belegen. Also schweige ich dazu. Daß er selber wie zwanghaft von Lüge spricht, darauf kann sich vielleicht jeder hier seinen Reim machen. Aber zu etwas anderem. Lingsohr erwähnte eben meine Sprachlosigkeit, eine Sprachlosigkeit, die man mir hoffentlich nachsieht, da ich schlichtweg bestürzt war in jenen Minuten – nur, beim Stichwort Sprachlosigkeit fällt mir jetzt auch etwas auf, etwas Seltsames. Was meine ich genau? Daß zwischen dem Vorfall, der, ich wiederhole, keiner war, und dem heutigen Tag fast zwei Jahre liegen. Hat das keiner bemerkt? Zwei Jahre Sprachlosigkeit und nicht bloß fünf oder zehn Minuten! Wenn aber jemand etwas seiner Meinung nach Empörendes entdeckt hat, dann wartet er doch niemals zwei Jahre. Das Beobachtete lastet ihm doch so auf der Seele, daß er gleich damit herausrückt. Offensichtlich ist das aber nicht passiert, und ich frage mich, warum es nicht passiert ist.«
    Matti hatte diese Gedanken ausschließlich zu Spahner hin formuliert, ging er doch fest davon aus, daß Lingsohr nicht allein auf die Idee gekommen war, ihm den Hitlergruß anzuhängen.
    »Richtig«, antwortete Spahner schnell, »die Frage steht natürlich im Raum. Ich selber habe sie dem Kollegen Lingsohr auch schon gestellt. Die Antwort ist einfach, plausibel und, lassen Sie es mich so ausdrücken, äußerst ehrenwert, sie lautet: Der Kollege hat mit sich gerungen. Er wolle, das waren seine Worte, eigentlich ›niemanden anscheißen‹, mit dem er zusammenarbeite. Deshalb hat er so lange geschwiegen. Es war falsch, so lange zu schweigen, gewiß, aber seine Motive sollten jedem hier im Saal gut verständlich sein.«
    »Und was hat dazu geführt, daß er endlich aufhören konnte, mit sich zu ringen?« fragte jemand von ganz hinten. Spahner und Bröslein reckten die Hälse, um zu sehen, wer da sprach, aber Matti wußte es gleich. Am mecklenburger Dialekt hatte er es erkannt, der alte Langhammer war das.
    »Irgendwann ist die Zeit eben reif, irgendwann sind … schwere gedankliche Prozesse abgeschlossen«, antwortete Lingsohr sichtlich nervös. Worauf einige höhnisch lachten; es war, als ob Spahner sie mit der Verneinung jedweder Denunziationsabsicht erst auf den gegenteiligen Gedanken gebracht habe, auf die Idee, Lingsohr ginge es nur darum, Matti Werchow fertigzumachen.
    Langhammer erhob sich. Er würdigte weder Lingsohr noch überhaupt jemanden eines Blickes; er hatte

Weitere Kostenlose Bücher