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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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ganz so unglücklich, wie er wäre, wenn er es nicht hätte. Was er also auch tut oder läßt, er wird in seinem Unglück bleiben, das ist ein Gesetz für ihn.«
    Matti fand das durchaus nachvollziehbar, wenn auch etwas zu flüssig und gewandt vorgetragen. Es befremdete ihn, einen Unbekannten, und das war Weißfinger ja für ihn, so wie er selber ein Unbekannter für Weißfinger war, leichterhand vom eigenen Unglück reden zu hören. Wenn es sich tatsächlich um ein solches handelte, um ein ausgewachsenes Unglück, dann schwieg man doch darüber!
    Aber auch dieses Gespräch wurde unterbrochen, Markus Fresenius rief nun zur Lesung. Die einen zogen sich Stühle heran, die anderen, für die keine mehr übrigblieben, ließen sich zwanglos auf dem Boden nieder oder lehnten sich an die Wand. Zwei Frauen bogen sich in den Schneidersitz und stellten Rotweingläser in die Mitte ihrer Schenkeldreiecke. Als Matti die Szene überblickte, fühlte er sich mit einemmal an die Chausseestraßen-Bilder des Sängers und seiner Gefolgschaft erinnert, die Jonas auf geheimnisvollen Wegen besorgt hatte, schon bevor er in das Fleischerhemd geschlüpft war. Ewig her, beinahe fünfzehn Jahre! Damals hatten ihn, Matti, die Fotos eher an Paris denken lassen als an Berlin, Hauptstadt der DDR, und nicht eine Vorstellung war in ihm gewesen, er könne und wolle einmal in dieses Paris gelangen, in so ein Wohnzimmer, zu fern war es, zu fremd gerade darum, weil es durch keine Grenze und keine Sprache von ihm getrennt war. Ein paar Augenblicke schien ihm jetzt noch verwunderlich, was sich seither alles ereignet hatte und wie alles gekommen war mit ihm, er meinte, ein Einbrecher zu sein, eine Figur auf einem Bild, die da keineswegs hingehörte, aber dann fand er seine Anwesenheit hier wieder normal.
    Er mußte sich langsam auch konzentrieren; er las.
    *
    Nach der Lesung, und nach dem Applaus, der freundlich, aber nicht überbordend war, fand man sich noch einmal zwanglos in Grüppchen zusammen. Matti gesellte sich dort hinzu, wo der Anwalt stand, und nicht nur stand, sondern, das war offensichtlich, auch das Wort führte.
    Er hörte ihn sagen: »… und weil ich jetzt mehr Zeit habe, komme ich auf Ideen, die so abseitig sind, daß man sie gar nicht kommen läßt, wenn man keine Zeit hat, weil man ja, beansprucht wie man ist, weiß, man könnte sie sowieso nicht umsetzen. Kurz und gut, ich habe mir ein altes Philosophisches Wörterbuch vorgenommen und ein neues danebengelegt und habe die einzelnen Stichwörter verglichen. Und nun hört zu: Im alten ist noch Konformismus, und damit notwendigerweise auch Nonkonformismus, enthalten – und im neuen nicht mehr. Das fehlt jetzt einfach. Das ist ausgemerzt als Vokabel. Es gibt keinen Nonkonformismus in diesem Land. Genauso auch das Stichwort Opposition. Keine Opposition mehr zu finden! Man tilgt demnach sogar in Standardwerken Begriffe, um die dahintersteckenden Inhalte zu bannen, das meinte ich eben mit allumfassender Wortlosigkeit. Es geht schon lange nicht mehr nur um die Massenmedien, es geht mittlerweile auch um die Rückzugslager, in denen Sachverhalte wie die genannten noch eine Weile hatten überdauern können. Jetzt sind auch die geraubt. Deshalb muß für uns das erste und wichtigste ein Wieder-Benennen sein, ein Zurückholen der verschwundenen Wörter und Inhalte ins Bewußtsein – so wie es«, er wies auf Matti, »für seinen Karandasch ja auch das erste gewesen ist. Der hat das löchrige Alphabet wieder aufgefüllt, das war übrigens clever überlegt, daß Sie ihn das vor jeder anderen Handlung haben tun lassen«, sagte der Anwalt.
    Matti verzichtete auf den Einwand, daran sei gar nichts groß überlegt gewesen, denn erstens hatte er eine solche Diskussion lang und breit schon mit Karin Werth geführt, und zweitens war er der Überzeugung, den Anwalt dränge es, nach dieser Nebenbemerkung gleich weiter über die offizielle Wortlosigkeit und die Wege zu ihrer Überwindung zu referieren.
    Der Anwalt wandte sich aber ausschließlich an Matti und zog ihn dabei sogar ein kleines Stück von der Gruppe weg: »Ich habe übrigens keineswegs vergessen, wo wir vorhin stehengeblieben waren. Über Ruschs Kneipe sprach ich deshalb in der Vergangenheitsform, weil ich, wie die anderen hier schon wissen, vor ein paar Tagen aus dem Anwaltskollegium ausgeschlossen worden bin. Zwar treten noch reichlich Mandanten an mich heran, aber ich muß sie alle abweisen.«
    »Das heißt im Klartext, Sie haben Berufsverbot –

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