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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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gestrigen Gespräch mit Jonas und ihm ja auch schon viel zu weit aus dem Fenster gelehnt. Bestimmt wollte sie gern Deutschlehrerin bleiben, so wie sie die Sprache liebte, bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein, über die andere stöhnten, bestimmt wollte sie …
    »Nein?« fragte Krümnick spöttisch.
    Karin Werth schüttelte weiter ihren Kopf, wie eine Aufziehpuppe, mit bleichem, wächsernem Gesicht. Es sah in diesem Moment aus, als könne man ihren ganzen Kopf aus dem Hals schrauben und in irgendein Regal legen, zu anderen Köpfen dieser Art.
    Krümnick trat auf sie zu. »Dann lassen Sie uns doch bitte wissen, wie Sie …«
    In diesem Moment sprang Jonas auf: »Was für ein abgekartetes Spiel! Nennen wir es doch beim Namen … ich, ich kann es beim Namen nennen, ich sage, was es ist, ein abgekartetes Spiel ist es, scheiß drauf … über mich ist sowieso schon entschieden … Sie«, Jonas reckte das Kinn gegen Krümnick, »haben entschieden, Sie relegieren mich, Sie haben es schon gesagt, es steht fest, geschenkt, wozu also noch das ganze Palaver!« Und er trat zur Seite und lehnte sich an die mit grüner Ölfarbe gestrichene Wand, offenkundig bereit, oder sogar bestrebt, die Klasse nach einer entsprechenden Aufforderung sofort zu verlassen.
    Krümnick verzog das Gesicht. »Sie bestätigen meine Einschätzung über Ihren Charakter mit jedem Wort, Jonas. Sie können wohl gar nicht mehr anders, als andere anzugreifen, andere, von denen Sie, ich weiß nicht, aus welchen Gründen, ich habe wirklich keine Ahnung warum, annehmen, sie wären Ihnen übel gesonnen. Das sind sie nicht! Selbst jetzt noch nicht! Denn mit Ihrem Vorwurf liegen Sie vollkommen falsch. Wie kommen Sie darauf zu behaupten, ich hätte schon entschieden? Ich habe noch gar nichts entschieden; wenn Sie vorhin richtig hingehört hätten, wüßten Sie das. Ich habe mich, bevor ich hierher kam, nur entschieden, nicht allein die Entscheidung zu fällen. Keiner allein, das entspricht den Grundsätzen unserer Gesellschaft. Wir schwadronieren hier nicht über Demokratie, wie es anderswo der Fall ist, wir praktizieren sie, auch heute. Gerade heute. Ich werde mich von nun an sogar überhaupt nicht mehr einmischen. Ihr Klassenverband«, Krümnick drehte seinen Oberkörper nach links und nach rechts, »also die gesamte 12 b, soll darüber befinden, ob Jonas Felgentreu der Schule verwiesen werden soll oder nicht, denn Sie«, er nickte hierhin und dorthin, »Sie kennen Ihren Mitschüler viel besser als wir.«
    Krümnick genoß die Überraschung aller Anwesenden. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, er ging, wie um den Schülern Zeit zu geben, diese neue Wendung zu verdauen, eine Runde um den Lehrertisch.
    Da stammelte Karin Werth: »Nicht doch … nicht … das dürfen Sie nicht … lassen Sie das … lassen Sie das …« Sie zitterte auf einmal am ganzen Leib.
    »Ihre Reaktionen«, erwiderte Krümnick, durchaus mitleidig, wie es schien, »sind immer so überbordend, Kollegin Werth. Beruhigen Sie sich doch. Beruhigen Sie sich. Und erinnern Sie sich daran, wie Sie im Lehrerkollektiv immer gemahnt haben, wir sollten den Schülern mehr Mitverantwortung einräumen. Sie sind doch hier nicht die einzige, die mündige Staatsbürger erziehen will, Kollegin Werth. Ich will es auch, und die Kollegin Stelzer will es, wir alle haben uns das auf die Fahnen geschrieben. Deshalb darf ich in dieser Abstimmungsfrage nicht nur so vorgehen, wie ich es beabsichtige, ich muß es geradezu, wenn ich unser aller Verpflichtung nachkommen will.«
    Karin Werth holte mit fahriger Geste ihr Taschentuch hervor, stammelte, »das sehe ich mir nicht an … das sehe ich mir nicht an«, und stürmte aus dem Zimmer. Eleonore Stelzer hob pikiert eine Augenbraue. Rolf-Dieter Krümnick nahm die Hände aus den Hosentaschen.
    Die Abstimmung, die eine öffentliche war, denn niemand hat hier etwas zu verbergen, niemand, und an der Jonas Felgentreu nicht teilnehmen durfte, endete 5:21, zuungunsten von Jonas natürlich.
    *
    Mit dem Gedicht aber, das Krümnick so ausnehmend gut gefallen hatte, geschah nun dies: Reni, die Sekretärin, pflückte es, wie angeordnet, von der Wandzeitung und legte es auf den hölzernen Tresen vor ihrem Schreibtisch. Mochte ihr Chef entscheiden, ob es zu den Akten genommen oder in den Papierkorb geworfen werden sollte. Dort, auf dem Tresen, sah es zuerst Eleonore Stelzer, die aus Krümnicks Zimmer kam, wo der Direktor und sie gerade die Diskussion über Jonas Felgentreu

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