Brüder und Schwestern
noch kurz und in voller Übereinstimmung ausgewertet hatten. Eleonore Stelzer überflog das Gedicht unter zunehmendem Stirnrunzeln. Sie war noch nicht am Ende angelangt, da entfuhr ihr: »Was ist denn das, Reni?«
Die Sekretärin zog ein gelangweiltes Gesicht: »Soll ein Liebeserguß irgendeines Schülers sein, sagt der Chef.«
Eleonore Stelzer rief durch die offene Tür: »Rolf-Dieter, komm doch mal bitte. Hier liegt ein Gedicht, Rolf-Dieter, das ist …«
»Ah ja, hübsch ist das. Sehr hübsch, muß ich sagen. Aber es nützt nichts, ich kann beim besten Willen nicht dulden …«
Eleonore Stelzer stand jetzt mit dem Papier im Türrahmen. »Hübsch nennst du das? Ich muß mich wirklich wundern, wie du das hübsch finden kannst!«
Krümnick lächelte entschuldigend: »Es erinnert mich an den Stausee, irgendwie.«
»An den Stausee? Willst du mich veralbern? Das ist nicht lustig, Rolf-Dieter! Reden wir wirklich von demselben Gedicht?« Sie wedelte mit dem Blatt in der Luft herum.
»Das nehme ich doch stark an. Bei aller Liebe, Eleonore, insofern verstehe ich deine Aufregung nicht ganz.«
Da begann Eleonore Stelzer empört zu rezitieren:
Was wird aus unseren Träumen
in diesem zerrissenen Land?
Die Wunden wollen nicht zugehn
unter dem Dreckverband.
Und was wird aus unseren Freunden,
und was noch aus Dir, aus mir?
Ich möchte am liebsten weg sein
und bleibe am liebsten hier.
Kaum daß sie durch energisches Kopfheben angezeigt hatte, am Schluß angelangt zu sein, riß Krümnick ihr das Blatt aus der Hand. Seine eben noch heitere Miene war finster. Er starrte auf das Blatt, stieß schließlich hervor: »Das ist dasselbe, aber … aber doch ein anderes, will heißen … soll bedeuten, ich kannte es nicht.«
»Wie, du kanntest es nicht? Ich denke, du fandest es hübsch?«
»Den Anfang fand ich hübsch, den Anfang, aber das Ende … bis zum Ende bin ich doch gar nicht gekommen.«
»Es sind nicht die Zeiten, nur Anfänge zu lesen«, tadelte Eleonore Stelzer, als habe sie nicht ihren Chef, sondern einen Schüler vor sich. »Ich lese immer alles bis zum Ende. Das Widerwärtige steht nie am Anfang, das sollte man wissen.«
Krümnick brummte zustimmend.
»Ich wage sogar zu behaupten, der Anfang ist das einzige, was wir nicht lesen müssen. Weil er nämlich nur dazu dient, uns in die Irre zu führen. Und manchmal funktioniert das ja sogar, wie man sieht …«
Keine zwei Minuten später war der Beschluß gefaßt, Krümnick werde für die Mittagspause das Lehrerkollegium zusammenrufen, um a) ein paar grundsätzliche Worte über die sich verschärfende Lage an der EOS »Markus Roser« zu verlieren und b) einer Antwort auf die nun doch recht dringliche Frage näherzukommen, wer jenes Pamphlet, das sich als Natur- respektive Liebesgedicht tarnte, wohl in die Welt gesetzt hatte.
Zu Punkt a) führte Krümnick dann vor den Kollegiumsmitgliedern folgendes aus: Es sei die gefährliche Tendenz zu beobachten, daß Schüler den festen Klassenstandpunkt als allgemein akzeptierte Grundlage jedweden Wissenserwerbs verließen beziehungsweise erst gar nicht einnähmen. Auf den Schüler Felgentreu, so habe sich herausgestellt, träfe letzteres zu. Es sei jetzt nicht die Zeit, darüber zu diskutieren, warum das keiner früher bemerkt habe oder, Blick zu Karin Werth, warum, wenn jemand es schon früher bemerkt haben sollte, keine Informationen geflossen und keine Konsequenzen gezogen worden seien. Jedenfalls, heute, spät, aber hoffentlich nicht zu spät, sei Felgentreu relegiert worden, und zwar nach einem überwältigenden Votum seiner Klasse. Jenes Votum beweise, auf die große, ja man könne sagen, auf die übergroße Mehrheit der Schüler sei Verlaß. Dessenungeachtet sei Wachsamkeit gefordert, handle es sich doch bei jenem Felgentreu nun auch wieder nicht um einen Einzelfall. Vielmehr sei zu befürchten, der Relegierte habe bereits weitere Schüler mit dem Virus konterrevolutionären Denkens infiziert. Bei jenem Votum nämlich, mag es noch so deutlich gegen Felgentreu ausgefallen sein, habe dieser immerhin fünf Stimmen erhalten. Er, Krümnick, wiederhole deshalb, Wachsamkeit sei geboten, um so mehr, da die Infizierten sich scheuten, mit offenen Karten zu spielen, womit er auch schon bei Punkt b) angelangt sei, einem anonymen, aufrührerischen, vor Unterrichtsbeginn heimlich an der Wandzeitung angebrachten Gedicht, das man nur als perfide bezeichnen könne, beginne es doch romantisch, schwärmerisch, elegisch, und vollziehe
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