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Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Brunetti 01 - Venezianisches Finale

Titel: Brunetti 01 - Venezianisches Finale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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war zur verschlafenen Provinzstadt geworden, die nach neun oder zehn Uhr abends buchstäblich aufhörte zu existieren. Im Sommer erinnerte sie sich ihrer Kurtisanenvergangenheit und glänzte, solange die Touristen zahlten und das schöne Wetter anhielt, im Winter aber wurde sie zu einer müden alten Matrone, die darauf bedacht war, möglichst früh ins Bett zu kriechen und ihre verlassenen Gassen den Katzen und den Erinnerungen an vergangene Zeiten überließ.
    In diesen Stunden war die Stadt für Brunetti am schönsten, denn gerade dann konnte er, der durch und durch Venezianer war, etwas von ihrer früheren Pracht erahnen. Die Dunkelheit verbarg das Moos, das über die Stufen der Palazzi entlang des Canal Grande herauf kroch, machte die Risse in Kirchenmauern unsichtbar und deckte die Stellen zu, wo der Putz von öffentlichen Gebäuden blätterte. Wie so viele Frauen in gewissem Alter konnte die Stadt nur mit Hilfe trügerischen Lichts ihre verschwundene Schönheit wiedererlangen. Ein Boot, das am Tage schlicht eine Ladung Seifenpulver und Kohl transportierte, wurde bei Nacht zu einem mysteriösen Gefährt, das einem geheimnisvollen Ziel entgegen glitt. Der Nebel, der in diesen Wintertagen so häufig war, verwandelte Menschen und Dinge; selbst langhaarige Teenager, die an einer Gassenecke herumhingen und sich eine Zigarette teilten, wurden zu geheimnisvollen Phantomen aus der Vergangenheit.
    Er blickte hinauf zu den Sternen, die über dem Dunkel der unbeleuchteten Calli klar zu erkennen waren und freute sich an ihrer Schönheit. Ihr Bild noch vor seinem inneren Auge, ging er weiter zum Hotel.
    Die Eingangshalle war leer und wirkte so verlassen wie alle öffentlichen Räume bei Nacht. Hinter dem Empfangstresen saß der Nachtportier, den Stuhl gegen die Wand gekippt, vor sich die rosafarbene Sportzeitung des Tages. Ein alter Mann mit grün-schwarz gestreifter Schürze verteilte Sägemehl auf dem Marmorboden und fegte anschließend zusammen. Als Brunetti merkte, dass er auf seinem Weg durch die Halle schon eine Spur durch die Späne gezogen hatte und sie nun auf dem bereits gefegten Teil wieder verteilen würde, sah er den alten Mann an und sagte: »Scusi.«
    »Macht nichts«, meinte der und fegte mit seinem Besen hinter ihm her. Der Portier hinter seiner Zeitung sah nicht einmal hoch.
    Brunetti ging weiter in die Halle, wo in sechs oder sieben Gruppen große Sessel um niedrige Tische standen, zu dem Mann, der als einziger Gast auf der rechten Seite saß. Wenn man den Zeitungen glauben konnte, war er der beste Regisseur, den es zurzeit in Italien gab. Vor zwei Jahren hatte Brunetti seine Inszenierung eines Pirandellostückes im Goldoni-Theater gesehen und war sehr beeindruckt gewesen, weit mehr von der Inszenierung als von den Schauspielern, die höchstens Mittelmaß geboten hatten. Es war bekannt, dass Santore homosexuell war, aber beim Theater, wo man unter einer Mischehe die zwischen Mann und Frau verstand, hatte sein Privatleben nie seinen Erfolg behindert. Und nun war er dem Vernehmen nach wütend aus der Garderobe eines Mannes gekommen, der kurz darauf eines gewaltsamen Todes gestorben war.
    Santore stand auf, als Brunetti an seinen Tisch trat. Sie gaben sich die Hand und stellten sich vor. Santore war mittelgroß und hatte eine durchschnittliche Figur, aber sein Gesicht sah aus wie das eines Boxers am Ende einer unglücklichen Laufbahn. Er hatte eine platte Nase und großporige Haut. Sein Mund war breit mit wulstigen feuchten Lippen und als er Brunetti fragte, ob er etwas trinken wolle, kamen aus diesem Mund Worte in reinstem Florentinisch, artikuliert mit der Klarheit und Grazie eines Schauspielers. Mein Gott, dachte Brunetti, so muss
    Dante gesprochen haben.
    Als Brunetti dem Vorschlag zustimmte, einen Cognac zu trinken, ging Santore ihn holen. Alleingelassen, schaute Brunetti auf das Buch, das der andere aufgeschlagen auf dem Tisch hatte liegen lassen und zog es dann zu sich herüber.
    Santore kam mit zwei großzügig gefüllten Cognacschwenkern zurück.
    »Danke«, sagte Brunetti, nahm das Glas entgegen und trank einen großen Schluck. Er deutete auf das Buch und beschloss, es als Aufhänger zu nehmen, statt mit den gewöhnlichen und nahe liegenden Fragen zu beginnen, wo er gewesen sei und was er gemacht habe. »Aischylos?«
    Santore lächelte und falls er erstaunt war, dass ein Polizist den Titel auf Griechisch lesen konnte, ließ er es sich nicht anmerken.
    »Lesen Sie das zum Vergnügen oder für die

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