Brunetti 01 - Venezianisches Finale
treten ließ, dazu eine Reihe makelloser, blitzender Zähne. Brunetti beneidete Padovani um diese Gabe; sie wäre bei der Befragung von Verdächtigen unbezahlbar.
21.
Der Intercity nach Mailand fuhr langsam über den Damm, der Venedig mit dem Festland verbindet und bald darauf rechts an dem Industriemoloch von Marghera vorbei. Wie einer, der es nicht lassen kann, mit der Zunge einen schmerzenden Zahn zu betasten, konnte Brunetti den Blick nicht von dem Wald aus Kränen und Schornsteinen wenden, den Schwaden verdreckter Luft, die übers Wasser der Lagune auf die Stadt zu trieben, aus der er gerade kam.
Hinter Mestre fiel der Blick auf öde winterliche Felder statt der industriellen Pestbeulen, aber im Großen und Ganzen war der Eindruck nicht wesentlich besser. Nach der vernichtenden Dürre des Sommers stand auf den meisten Feldern noch das Korn. Eine Bewässerung wäre zu kostspielig gewesen und die Halme waren für die Ernte zu ausgetrocknet.
Der Zug hatte nur zehn Minuten Verspätung, so dass er rechtzeitig zu seiner Verabredung mit Treponti kam, dessen Praxis in einem modernen Gebäude nicht weit von der Universität lag. Als Venezianer kam Brunetti nicht auf die Idee, den Fahrstuhl zu benutzen, sondern ging die Treppe zum dritten Stock hinauf. Als er die Praxistür öffnete, war das Wartezimmer leer, bis auf eine Frau in weißem Kittel hinter einem Schreibtisch. »Der Dottore kann gleich mit Ihnen sprechen«, sagte sie, als er eintrat, ohne erst zu fragen, wer er war. Sah man das etwa?, überlegte Brunetti.
Dottore Treponti war ein kleiner, adretter Mann mit kurz gestutztem, dunklem Bart und braunen Augen, die durch seine dicken Brillengläser leicht vergrößert wurden. Seine Wangen waren rund und prall wie bei einem Streifenhörnchen und er schob einen beutelähnlichen Bauchansatz vor sich her. Er lächelte nicht, als Brunetti hereinkam, streckte aber die Hand aus. Dann deutete er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, wartete, bis Brunetti sich gesetzt hatte, bevor er seinen Platz wieder einnahm und fragte: »Was wollten Sie denn wissen?«
Brunetti zog ein kleines Porträtfoto des Dirigenten aus seiner Brieftasche und hielt es dem Arzt hin. »Ist das der Mann, der bei Ihnen war? Der, von dem Sie sagten, er sei Österreicher?«
Der Arzt nahm das Foto, betrachtete es kurz und reichte es Brunetti zurück. »Ja, das ist der Mann.«
»Aus welchem Grund war er bei Ihnen, Dottore?«
»Wollen Sie mir nicht sagen, wer er ist? Wenn die Polizei ermittelt und er gar nicht Hilmar Doerr heißt?«
Brunetti konnte es kaum fassen, wie jemand in Italien leben und nichts vom Tode des Dirigenten wissen konnte, aber er sagte nur: »Das erzähle ich Ihnen, wenn Sie mir alles über Ihren Patienten berichtet haben, Dottore.« Und bevor der andere noch etwas einwenden konnte, fügte er hinzu: »Ich möchte nicht, dass Sie durch die Information beeinflusst werden.«
»Es geht doch wohl nicht um etwas Politisches, oder?«, fragte der Arzt mit jenem tiefen Misstrauen, das nur ein Italiener in diese Frage legen kann.
»Nein, es hat nichts mit Politik zu tun. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Wie zweifelhaft der Wert dieser Versicherung dem Doktor auch erscheinen mochte, er erklärte sich einverstanden. »Also gut.« Er schlug die Patientenmappe vor sich auf und sagte: »Meine Sprechstundenhilfe gibt Ihnen nachher eine Kopie hiervon.«
»Vielen Dank, Dottore.«
»Wie ich Ihnen schon sagte, hat er sich mir als Hilmar Doerr vorgestellt und mir erzählt, er sei Österreicher und lebe in Venedig. Da er nicht unter die italienische Gesundheitsfürsorge falle, käme er als Privatpatient. Ich hatte keinen Anlass, ihm nicht zu glauben.« Während er sprach, las der Doktor die Notizen auf dem linierten Papier vor sich. Brunetti fiel auf, wie feinsäuberlich sie geschrieben waren, obwohl er sie verkehrt herum sah.
»Er sagte, er höre seit einiger Zeit schlechter und bat mich um eine Untersuchung. Das war«, er drehte die Karteikarte um und schaute auf das Datum. »Am dritten November. Ich habe die üblichen Tests gemacht und festgestellt, dass er, wie er selbst sagte, einen deutlichen Hörverlust erlitten hatte.« Er nahm Brunettis Frage vorweg und beantwortete sie gleich. »Meiner Schätzung nach hatte er noch sechzig bis siebzig Prozent des normalen Hörvermögens. Was mich etwas bestürzte, war seine Äußerung, er habe vorher keinerlei Hörprobleme gehabt; sie seien ganz plötzlich im vergangenen Monat aufgetreten.«
»Wäre
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