Brunetti 01 - Venezianisches Finale
das bei einem Mann seines Alters normal?«
»Er sagte, er sei zweiundsechzig. Das ist dann wohl auch nicht richtig? Wenn Sie mir sein wahres Alter nennen, könnte ich Ihre Frage vielleicht besser beantworten.«
»Er war vierundsiebzig.«
Als er das hörte, drehte Treponti die Karte um, strich etwas aus und schrieb eine neue Zahl darüber. »Ich glaube nicht, dass es etwas ändern würde«, sagte er, als er damit fertig war, »zumindest nichts Wesentliches. Der Schaden trat plötzlich auf und da er das Nervengewebe betraf, war er irreversibel.«
»Sind Sie da ganz sicher, Dottore?«
Brunettis Gegenüber machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. »Da mir das Ganze doch recht schwerwiegend erschien, schlug ich ihm vor, in vierzehn Tagen wiederzukommen. Das tat er, ich wiederholte meine Untersuchungen und das Gehör war noch schlechter geworden, der Schaden hatte sich vergrößert. Auch dies irreversibel.«
»Wie viel mehr war es denn?«
»Schätzungsweise«, der andere studierte wieder die Zahlen und Aufzeichnungen auf dem Karteiblatt, »noch einmal zehn Prozent. Vielleicht etwas mehr.«
»Konnten Sie ihm auf irgendeine Weise helfen?«
»Ich schlug ihm eines der neuen Hörgeräte vor. Ich hoffte - wenn ich es auch nicht ernsthaft glaubte - dass es ihm helfen würde.«
»Und?«
»Ich weiß es nicht.«
»Das verstehe ich nicht ganz.«
»Er ist nicht wieder erschienen.«
Brunetti rechnete kurz nach. Der zweite Besuch hatte stattgefunden, als die Proben für die Oper schon längst angefangen hatten. »Können Sie mir mehr über dieses Hörgerät sagen?«
»Es ist sehr klein und wird auf eine ganz normal aussehende Brille mit Fensterglas oder geschliffenen Gläsern gesetzt. Es funktioniert nach dem Prinzip eines...« Er unterbrach sich. »Ich weiß nicht, warum das hier eine Rolle spielt.«
Anstatt das zu erklären, fragte Brunetti: »Hätte es ihm denn helfen können?«
»Das ist schwer zu sagen. Vieles, was wir hören, nehmen wir gar nicht mit den Ohren auf.« Als er Brunettis fragenden Blick sah, erklärte er: »Wir lesen vieles von den Lippen ab und fügen fehlende Wörter automatisch aus dem Zusammenhang dessen ein, was wir tatsächlich gehört haben. Wenn also jemand so eine Hörbrille trägt, hat er endlich akzeptiert, dass etwas mit seinem Gehör nicht stimmt. Alle anderen Sinnesorgane fangen dann sozusagen an, Überstunden zu machen, versuchen die fehlenden Botschaften und Signale einzufügen und weil das einzig Neue das Hörgerät ist, glauben die Leute, es sei dieses Gerät, das ihnen hilft, während im Grunde eigentlich nur ihre anderen Sinne alle Kapazitäten ausschöpfen, um den Verlust des Hörens auszugleichen.«
»War das hier der Fall?«
»Wie gesagt, ich weiß es nicht genau. Als ich ihm das Gerät bei seinem zweiten Besuch anpasste, beharrte er darauf, jetzt besser zu hören. Er reagierte genauer auf meine Fragen, aber das tun alle, egal, ob eine physische Verbesserung eingetreten ist oder nicht. Allerdings sitze ich dann direkt vor ihnen, stelle ihnen meine Fragen direkt, sehe sie an und werde von ihnen gesehen. Bei den Tests, bei denen die Stimme über Kopfhörer kommt, ist dann selten eine Verbesserung festzustellen, jedenfalls nicht in Fällen wie diesem.«
Brunetti ließ sich das durch den Kopf gehen, dann fragte er: »Dottore, Sie sagten, bei seinem zweiten Besuch hätte sich der Hörverlust noch verstärkt. Haben Sie eine Vorstellung, was einen solchen Verlust bewirken könnte, so plötzlich?«
An Trepontis Lächeln war leicht zu erkennen, dass er die Frage erwartet hatte. Er faltete die Hände auf seinen Unterlagen wie ein Fernseharzt in einer Seifenoper. »Es könnte das Alter sein, aber daraus ließe sich ein derart plötzlicher Hörverlust kaum befriedigend erklären. Es könnte sich auch um eine Infektion handeln, aber die geht meist mit Schmerzen einher und er hatte keine, oder mit Gleichgewichtsstörungen, die er auch nicht hatte. Dann käme noch die fortgesetzte Einnahme von Diuretika in Frage, aber er sagte, dass er keine nehme.«
»Über all das haben Sie mit ihm gesprochen, Dottore?«
»Selbstverständlich. Er war so besorgt darüber, wie ich noch nie einen Patienten erlebt habe und als Patient hatte er das Recht, alles zu erfahren.«
»Natürlich.«
Versöhnt fuhr der Arzt fort. »Eine andere Möglichkeit, die ich angesprochen habe, war die Einnahme von Antibiotika. Das schien ihn sehr zu interessieren, so erklärte ich ihm, dass die Dosierung
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