Brunetti 02 - Endstation Venedig
dann seine eigene Nummer.
»Pronto «, antwortete Paola nach dreimaligem Klingeln.
»Nochmal ich«, sagte er ohne Einleitung.
»Das heißt, du kommst später.«
»Ich muß zum Piazzale Roma und einen amerikanischen Captain abholen, der aus Vicenza kommt, um die Leiche zu identifizieren. Es durfte nicht allzu spät werden, nicht später als neun. Sie soll um sieben hier sein.«
»Sie?«
»Ja, sie«, sagte Brunetti. »Ich habe genauso reagiert. Sie ist auch noch Ärztin.«
»Wir leben in einer Welt voller Wunder«, sagte Paola. »Nicht nur Captain, auch noch Doctor. Hoffentlich ist sie in beiden Rollen gut, denn ihretwegen verpaßt du Polenta und Leber.« Das war eines seiner Leibgerichte, und sie hatte es wahrscheinlich vorbereitet, weil er kein Mittagessen bekommen hatte.
»Ich esse, wenn ich komme.«
»Gut. Ich füttere die Kinder ab und warte auf dich.«
»Danke, Paola. Ich werde mich beeilen.«
»Ich warte«, sage sie und legte auf.
Sobald die Leitung frei war, rief er unten im zweiten Stock an und fragte, ob Bonsuan inzwischen zurück sei. Der Bootsfuhrer war gerade gekommen, und Brunetti bat, ihn zu ihm heraufzuschicken.
Ein paar Minuten später trat Danilo Bonsuan in Brunettis Büro. Mit seiner robusten, vierschrötigen Figur sah er genauso aus wie einer, der auf dem Wasser lebt, aber nie auf die Idee kame, das Zeug zu trinken. Brunetti deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Bonsuan ließ sich darauf nieder, steifgliedrig nach Jahrzehnten auf schwankenden Decks. Brunetti kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er keine freiwilligen Informationen von ihm erwarten konnte, nicht weil Bonsuan nicht wollte, sondern weil er es gewöhnt war, nur dann zu reden, wenn damit ein praktischer Zweck erfüllt wurde.
»Danilo, die Frau hat ihn gegen halb sechs entdeckt, bei tiefster Ebbe. Dottor Rizzardi sagt, er war etwa fünf bis sechs Stunden im Wasser; so lange war er schon tot.« Brunetti hielt inne, um dem Mann Gelegenheit zu geben, sich die Wasserwege ums Krankenhaus vorzustellen. »In dem Kanal, in dem wir ihn gefunden haben, ist keine Spur von einer Waffe zu entdecken.«
Bonsuan machte sich nicht die Mühe, die Bemerkung zu kommentieren. Niemand würde ein gutes Messer wegwerfen.
Brunetti betrachtete es als gesagt und fuhr fort: »Er könnte woanders umgebracht worden sein.«
»Wahrscheinlich«, brach Bonsuan jetzt sein Schweigen.
»Wo?«
»Fünf, sechs Stunden?« fragte Bonsuan. Als Brunetti nickte, legte der Bootsführer den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Brunetti konnte den Gezeitenplan der Lagune, den er studierte, fast selbst sehen. Bonsuan blieb einige Minuten so sitzen. Einmal schüttelte er rasch den Kopf, um eine Möglichkeit zu verwerfen, von der Brunetti nie erfahren würde. Schließlich öffnete er die Augen und sagte: »Es gibt zwei Stellen, an denen es passiert sein könnte. Hinter Santa Marina. Sie kennen die Sackgasse, die zum Rio Santa Marina hinunterführt, hinter dem neuen Hotel?«
Brunetti nickte. Es war ein stiller Winkel, eine Sackgasse.
»Die andere ist Calle Cocco.« Als Brunetti überrascht schien, erklärte Bonsuan: »Es ist eine von diesen beiden Sackgassen, die von der Calle Lunga abgehen, wo sie den Campo Santa Maria Formosa verlaßt. Führt direkt zum Wasser.«
Obwohl er durch Bonsuans Beschreibung wußte, wo diese Calle war, sich sogar den Eingang dazu ins Gedächtnis rufen konnte, an dem er Hunderte von Malen vorbeigegangen sein mußte, konnte Brunetti sich nicht erinnern, sie je tatsächlich entlanggegangen zu sein. Das würde auch niemand tun, es sei denn, er wohnte dort, denn es war, wie Bonsuan erklärt hatte, eine Sackgasse, die ans Wasser führte und dort endete.
»Beide Stellen wären ideal«, meinte Bonsuan. »An beiden kommt nie jemand vorbei, nicht um diese Zeit.«
»Und die Gezeiten?«
»Vergangene Nacht waren sie sehr schwach. Kein richtiger Sog. Und eine Leiche bleibt an allerlei Dingen hängen; das macht sie langsamer. Es hätte jede der beiden Stellen sein können.«
»Und sonst?«
»Vielleicht eine der anderen Calli, die zum Rio Santa Marina führen, aber die beiden Stellen sind die wahrscheinlichsten, wenn er nur fünf bis sechs Stunden im Wasser getrieben ist.« Bonsuan schien fertig zu sein, aber dann meinte er noch: »Es sei denn, er hatte ein Boot«, wobei er es Brunetti überließ, sich zusammenzureimen, daß er mit »er« den Mörder meinte.
»Möglich wär's, oder?« pflichtete Brunetti ihm bei, obwohl er es für
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