Brunetti 02 - Endstation Venedig
dich.«
»Du meinst, du liebst Feigen«, sagte sie und lächelte.
Es waren sechs, vollkommen und feucht vor reifer Süße. Er nahm sein Messer und fing an, eine zu schälen. Als er fertig war und der Saft ihm über die Finger rann, schnitt er sie durch und reichte ihr das größere Stück.
Er steckte das meiste von seiner Hälfte auf einmal in den Mund und wischte sich den Saft vom Kinn. Dann aß er den Rest und noch zwei weitere Feigen, wischte sich wieder über den Mund, trocknete seine Hände an der Serviette ab und sagte: »Wenn du mir jetzt noch ein Glaschen Port gibst, sterbe ich als glücklicher Mann.«
Paola stand auf und fragte: »Wovor könnte sie sonst noch Angst haben?«
»Wie du gesagt hast - davor, daß sie verdächtigt werden konnte, etwas mit seinem Tod zu tun zu haben. Oder weil sie tatsachlich etwas damit zu tun hatte.«
Sie griff nach einer gedrungenen Portweinflasche im Regal, aber bevor sie etwas davon in zwei winzige Glaser goß, stellte sie die Teller in die Spüle. Dann goß sie den Portwein ein und brachte die Gläser zum Tisch.
Die Süße vermischte sich mit dem Nachgeschmack der Feigen. Ein glücklicher Mann. »Aber ich glaube, es ist weder das eine noch das andere.«
»Warum?«
Er hob die Schultern. »Sie kommt mir nicht vor wie eine Mörderin.«
»Weil sie hübsch ist?« fragte Paola und nippte an ihrem Port.
Er wollte schon sagen, weil sie Ärztin sei, aber da fielen ihm Rizzardis Worte ein, daß der Mörder des jungen Mannes gewußt haben mußte, wo man das Messer ansetzt. Ein Arzt würde das wissen. »Vielleicht«, sagte er, dann wechselte er das Thema und fragte: »Ist Raffi zuhause?« Er sah auf die Uhr. Nach zehn. Sein Sohn wußte, daß er um zehn zu Hause sein mußte, wenn er anderntags Schule hatte.
»Wenn er nicht gekommen ist, während wir gegessen haben, dann nicht«, antwortete Paola.
»Nein, ist er nicht«, sagte Brunetti, der sich zwar seiner Antwort sicher war, nicht aber, warum er es wußte.
Es war spät, sie hatten eine Flasche Wein getrunken, herrliche Feigen gegessen und perfekten Portwein genossen. Sie wollten beide nicht über ihren Sohn reden. Er würde auch am Morgen noch da und noch immer ihr Sohn sein.
»Soll ich für dich abräumen?« Er meinte das Geschirr, aber die Frage war nicht ernst gemeint.
»Nein, das mache ich schon. Geh du Chiara ins Bett schicken.«
Abräumen wäre weniger schwierig gewesen. »Na, ist das Feuer gelöscht?« fragte er, als er ins Wohnzimmer trat.
Sie hörte ihn nicht. Sie war viele Kilometer und viele Jahre von ihm entfernt. Sie saß tief in den Sessel gekuschelt, die Beine weit von sich gestreckt. Auf der Armlehne lagen die Kerngehäuse zweier Äpfel, auf dem Boden neben ihr stand eine Tüte Kekse.
»Chiara«, sagte er, dann lauter: »Chiara.«
Sie blickte kurz auf, sah ihn zuerst nicht und merkte dann, daß es ihr Vater war. Sofort versenkte sie sich wieder in ihr Buch und vergaß ihn.
»Chiara, Zeit, ins Bett zu gehen.«
Sie blätterte eine Seite um.
»Chiara, hast du mich gehört? Zeit fürs Bett.«
Immer noch lesend stieß sie sich mit einer Hand aus dem Sessel hoch. Am Ende der Seite hielt sie gerade lange genug inne, um aufzusehen und ihm einen Kuß zu geben, dann verschwand sie, einen Finger zwischen den Seiten. Er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, sie solle das Buch dalassen. Wenn er in der Nacht aufstand, konnte er ja ihr Licht ausmachen.
Paola kam ins Wohnzimmer. Sie beugte sich vor, knipste die Lampe neben dem Sessel aus, nahm die Apfelreste, hob die Tüte mit den Keksen auf und brachte sie in die Küche.
Brunetti machte das Licht aus und ging über den Flur zum Schlafzimmer.
6
Brunetti kam am nächsten Morgen um acht in die Questura, nachdem er unterwegs noch die Zeitungen gekauft hatte. Der Mord hatte es auf Seite elf des Corriere geschafft, der allerdings nur zwei Absätze dafür übrig hatte, in La Repubblica wurde er nicht erwähnt, verständlich am Jahrestag eines blutigen Bombenanschlags der sechziger Jahre, aber er war auf der ersten Seite des zweiten Teils von Il Gazzettino gelandet, gleich links neben einem Bericht - dieser mit Foto - über den tödlichen Unfall dreier junger Männer, die mit ihrem Auto auf der Autobahn zwischen Dolo und Mestre in einen Baum gerast waren.
In dem Artikel stand, daß der junge Mann, dessen Name mit Michele Foster angegeben war, offensichtlich Opfer eines Raubüberfalls geworden sei. Es wurde die Vermutung ausgesprochen, daß Drogen im Spiel wären,
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