Brunetti 03 - Venezianische Scharade
erholten, der aus einem klimatisierten Laden drang. Durch die Enge der Calle della Mandoria eilte er unter Einsatz von Ellbogen und Stimme, ungeachtet der wütenden Blicke und beißenden Bemerkungen, die er dabei erntete.
Auf dem Campo Manin beschleunigte er seine Schritte, auch wenn jede schnellere Bewegung schweißtreibend war. Er trabte an der Bank vorbei und auf den Campo San Luca, wo sich um diese Zeit viele zu einem Drink vor dem Mittagessen trafen.
Die Haustür, durch die man zu Santomauros Büro hinaufging, war angelehnt, Brunetti stieß sie auf und nahm zwei Stufen auf einmal. Die Tür des Büros war zu, und darunter drang von drinnen Licht ins dämmrige Treppenhaus. Er zog seine Pistole und stieß die Tür auf, sprang dann rasch zur Seite und duckte sich, genau wie er es beim Betreten von Ravanellos Wohnung gemacht hatte.
Die Sekretärin schrie auf. In filmreifer Manier hielt sie sich beide Hände vor den Mund und kreischte laut, dann warf sie sich nach hinten und fiel vom Stuhl.
Sekunden später öffnete sich die Tür zu Santomauros Büro, und der Anwalt stürzte heraus. Mit einem Blick erfaßte er alles - seine Sekretärin, die hinter ihrem Schreibtisch kauerte und mit der Schulter dauernd gegen die Tischplatte stieß, als sie vergeblich versuchte darunterzukriechen, sowie Brunetti, der sich eben aufrichtete und seine Pistole wegsteckte.
»Ist schon gut, Louisa«, sagte Santomauro, während er hinging und sich neben seine Sekretärin kniete. »Ist schon gut, es ist ja nichts passiert.«
Die Frau war unfähig etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Sie schluchzte, wandte sich ihrem Arbeitgeber zu und streckte die Hände nach ihm aus. Er legte ihr den Arm um die Schultern, und sie drückte das Gesicht an seine Brust. Sie schluchzte noch einmal tief auf und rang nach Atem. Santomauro tätschelte ihr den Rücken und redete sanft auf sie ein. Allmählich beruhigte sie sich, und kurz darauf löste sie sich von ihm. »Scusi, avvocato«, war das erste, was sie sagte, und ihre Förmlichkeit brachte wieder Ruhe in das Zimmer.
Stumm half Santomauro ihr auf die Beine und zu einer Tür hinten im Büro. Als er diese hinter ihr zugemacht hatte, drehte er sich zu Brunetti um. »Nun?« sagte er mit ruhiger Stimme, die darum nicht weniger todbringend klang. »Ravanello ist umgebracht worden«, sagte Brunetti. »Und ich dachte, Sie wären der nächste. Ich bin hergekommen, weil ich versuchen wollte, das zu verhindern.«
Wenn die Nachricht für Santomauro überraschend war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Warum?« fragte er. Und als Brunetti nicht antwortete, wiederholte er die Frage: »Warum sollte ich der nächste sein?«
Brunetti antwortete ihm nicht.
»Ich habe Sie etwas gefragt, Commissario. Warum sollte ich der nächste sein? Warum sollte ich überhaupt in Gefahr sein?« Da Brunetti weiterhin schwieg, führ Santomauro fort. »Glauben Sie denn, daß ich mit all dem irgend etwas zu tun habe? Sind Sie darum hier und spielen Räuber und Gendarm und erschrecken meine Sekretärin zu Tode?«
»Ich hatte Grund zu der Annahme, daß er hierherkommen würde«, erklärte Brunetti schließlich.
»Wer?« wollte der Anwalt wissen.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Santomauro bückte sich und hob den Stuhl seiner Sekretärin auf. Er stellte ihn hin und schob ihn an ihren Schreibtisch. Als er Brunetti wieder ansah, sagte er: »Verschwinden Sie. Verschwinden Sie aus meinem Büro. Ich werde mich beim Innenminister über Sie beschweren. Und eine Kopie geht an Ihren Vorgesetzten. Ich lasse mich nicht behandeln wie ein Verbrecher, und ich lasse nicht zu, daß Sie meine Sekretärin mit Ihren Gestapomethoden ängstigen.«
Brunetti hatte in seinem Leben und bei seiner Arbeit schon genug Zorn gesehen, um zu wissen, daß der hier echt war. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Büro und ging nach unten auf den Campo San Luca. Leute, die eilig nach Hause zum Essen wollten, drängten sich an ihm vorbei.
28
B runettis Entschluß, in die Questura zurückzugehen, war ein Sieg des Willens über die Macht des Fleisches. Er hatte es zu seiner Wohnung nämlich näher als zur Questura, und eigentlich wollte er nur nach Hause, duschen und über andere Dinge nachdenken als über die unvermeidlichen Konsequenzen dessen, was eben passiert war. Er war ungerufen gewaltsam ins Büro eines der mächtigsten Männer dieser Stadt eingedrungen, hatte dessen Sekretärin in Angst und Schrecken versetzt und dadurch, wie er sein
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