Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Landesteg auf der linken Seite. Brunetti und Vianello sprangen ans Ufer und überquerten rasch den campo. Pärchen saßen lethargisch vor pastellfarbenen Drinks an den Tischen eines Straßencafes; die Menschen, die auf dem campo unterwegs waren, sahen alle aus, als fühlten sie die Hitze wie ein Joch auf ihren Schultern.
Schnell fanden sie die Tür zwischen einem Restaurant und einem Lädchen, das marmoriertes venezianisches Papier verkaufte. Die Klingel mit Ravanellos Namensschild war die oberste in der rechten der beiden Reihen. Brunetti drückte den Knopf darunter, und als nichts geschah, noch einen tiefer. Eine Stimme fragte, wer da sei, und er sagte: »Polizia«, worauf die Tür sofort aufsprang.
Er und Vianello traten in den Hausflur, und eine quengelnde hohe Stimme rief von oben: »Wie sind Sie denn so schnell hergekommen?«
Brunetti begann die Treppe hinaufzusteigen, Vianello folgte ihm auf den Fersen. Da rief vom ersten Treppenabsatz eine grauhaarige Frau, die kaum größer war als das Geländer, über das sie sich beugte, noch einmal: »Wie sind Sie denn so schnell hergekommen?«
Ohne auf ihre Frage einzugehen, fragte Brunetti: »Was ist passiert, Signora?«
Sie trat vom Geländer zurück und deutete nach oben. »Da, über mir, bei Signor Ravanello, habe ich Schreien gehört, und dann ist jemand die Treppe hinuntergelaufen. Ich hatte Angst rauf zugehen.«
Brunetti und Vianello rannten, immer zwei Stufen auf einmal, an ihr vorbei. Beide hatten die Pistole gezogen. Oben fiel Licht aus der offenen Wohnungstür auf den breiten Treppenabsatz. Brunetti huschte an der Tür vorbei - zu schnell, um drinnen etwas erkennen zu können. Er warf Vianello über die Schulter einen Blick zu, Vianello nickte. Zusammen stürmten sie in die Wohnung, beide tief geduckt. Sowie sie durch die Tür waren, sprangen sie nach rechts und links auseinander, damit sie zwei Ziele boten.
Aber Ravanello würde sowieso nicht auf sie schießen, ein Blick auf ihn genügte, um das festzustellen. Seine Leiche lag über einem niedrigen Sessel, der bei dem Kampf, der hier offensichtlich stattgefunden hatte, umgekippt war. Er lag auf der Seite, mit dem Gesicht zur Tür, und seine blicklosen Augen starrten ins Nichts, für immer gleichgültig gegenüber diesen Männern, die so plötzlich und unaufgefordert in seine Wohnung gestürzt waren.
Keine Sekunde kam Brunetti der Gedanke, daß Ravanello womöglich noch lebte; die marmorne Schwere seines Körpers schloß diese Möglichkeit aus. Es war wenig Blut zu sehen, das fiel Brunetti als erstes auf. Offenbar war zweimal auf Ravanello eingestochen worden, denn auf seinem Jackett waren zwei tiefrote Flecken, und unter seinem Arm war etwas Blut auf den Boden geflossen, aber kaum so viel, daß damit auch das Leben aus ihm herausgeflossen wäre.
»Oh, Dio«, hörte er hinter sich die alte Frau stöhnen, und als er sich umdrehte, sah er sie an der Tür stehen, eine Hand am Mund, den Blick starr auf Ravanello gerichtet. Brunetti trat zwei Schritte nach rechts und damit in ihr Blickfeld. Sie sah mit eisigem Blick zu ihm auf. Konnte es sein, daß sie ärgerlich war, weil er ihr den Anblick der Leiche verwehrte?
»Wie sah er aus, Signora?« fragte er.
Sie wandte den Blick nach rechts, konnte aber nicht um ihn herumsehen.
»Wie sah er aus, Signora?«
Hinter sich hörte er Vianello in der Wohnung umhergehen, dann Wählgeräusche und Vianellos Stimme, leise und ruhig, wie er der Questura Bericht erstattete und die entsprechenden Leute anforderte.
Brunetti ging direkt auf die Frau zu, und wie er gehofft hatte, wich sie zurück und trat in den Flur. »Können Sie mir genau sagen, was Sie gesehen haben, Signora?«
»Einen Mann, nicht sehr groß, er ist die Treppe runtergerannt. Ein weißes Hemd hatte er an, kurzärmelig.«
»Würden Sie ihn wiedererkennen, Signora?«
»Ja.«
Das würde Brunetti auch.
Hinter ihnen kam Vianello aus der Wohnung, die Tür ließ er offen. »Sie sind unterwegs.«
»Bleiben Sie hier«, sagte Brunetti, schon auf dem Weg zur Treppe.
»Santomauro?« fragte Vianello.
Brunetti bejahte mit einer Handbewegung und rannte die Treppe hinunter. Draußen wandte er sich nach links und lief eilig zum Campo San Angelo, dann weiter dem Campo San Luca und dem Büro des Anwalts zu.
Es war, als müßte er durch starke Brandung waten, als er sich seinen Weg durch die Menschen bahnte, die hier am späten Vormittag auf ein Schwätzchen stehenblieben oder sich kurz in dem kühlen Luftzug
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