Brunetti 03 - Venezianische Scharade
Guido. Wann ist die Beerdigung?«
Einen Augenblick wußte er nicht, welche sie meinte - Mascaris, Crespos, Maria Nardis? Nein, es konnte nur letztere sein. »Freitag vormittag, glaube ich.«
»Geht ihr alle hin?«
»So viele wie können. Sie war noch nicht sehr lange bei uns, aber sie hatte viele Freunde.«
»Wer war das?« fragte sie, ohne die Frage näher erklären zu müssen.
»Ich weiß es nicht. Das Auto war weg, bevor wir richtig gemerkt hatten, was passiert war. Aber ich war gerade in Mestre gewesen, um mich mit jemandem zu treffen, mit einem der Transvestiten, und wer immer es war, muß gewußt haben, wo ich bin. Es war leicht, uns zu folgen. Es gibt ja nur die eine Straße.«
»Und der Transvestit?« erkundigte sie sich. »Hast du mit ihm gesprochen?«
»Zu spät. Er wurde umgebracht.«
»Derselbe Täter?« fragte sie in dem Telegrammstil, den sie in zwei Jahrzehnten entwickelt hatte.
»Ja. Ziemlich sicher.«
»Und der erste? Der auf der Wiese?«
»Alles eins.«
Er hörte, wie sie mit jemandem sprach, dann war sie wieder da und fragte: »Guido, Chiara ist hier und möchte dir guten Tag sagen.«
»Ciao, papà, wie geht's dir so? Fehle ich dir?«
»Mir geht's gut, mein Engel, und du fehlst mir ganz schrecklich. Ihr alle fehlt mir.«
»Aber ich am meisten, oder?«
»Ihr fehlt mir alle gleichermaßen.«
»Das ist unmöglich. Raffi kann dir nicht fehlen, weil er sowieso nie zu Hause ist. Und mamma sitzt immer nur rum und liest in diesem Buch, wem sollte sie also fehlen? Daraus folgt doch, daß ich dir am meisten fehlen muß, oder?«
»Da hast du wohl recht, mein Engel.«
»Siehst du, ich hab's gewußt. Du mußtest nur ein bißchen darüber nachdenken, nicht?«
»Ja. Ich bin froh, daß du mich daran erinnert hast.« Er hörte Geräusche an Chiaras Ende, dann sagte sie »Papà, ich muß dich wieder an mamma abgeben. Sag ihr bitte, daß sie mit Spazierengehen soll, ja? Sie sitzt den ganzen Tag hier auf der Terrasse herum und liest nur. Was ist denn das für ein Urlaub?«
Mit dieser Beschwerde war sie weg und wurde von Paola abgelöst. »Guido, wenn du willst, daß ich zurückkomme, dann komme ich.«
Er hörte Chiaras Protestgeheul bei dem Vorschlag und antwortete: »Nein, Paola, nicht nötig. Wirklich nicht. Ich versuche, am Wochenende zu euch zu kommen.«
Ähnliche Versprechungen hatte sie schon oft gehört, darum bat sie ihn nicht, sich klarer auszudrücken. »Kannst du mir mehr über die Sache sagen, Guido?«
»Nein, Paola. Ich erzähle dir alles, wenn wir uns sehen.«
»Hier?«
»Ich hoffe es. Wenn nicht, rufe ich dich an. Paß auf, ich rufe dich auf jeden Fall an, ob ich komme oder nicht. Ja?«
»Also gut, Guido. Und paß um Himmels willen auf dich auf.«
»Das werde ich, Paola. Und du auch.«
»Aufpassen? Worauf denn aufpassen, hier mitten im Paradies?«
»Paß auf, daß du dein Buch nicht ausliest, wie damals in Cortina.« Beide lachten bei der Erinnerung daran. Sie hatte Die goldene Schale mitgehabt und es gleich in der ersten Woche ausgelesen, so daß sie in der zweiten Woche nichts zu tun hatte, außer in den Bergen spazierenzugehen, zu schwimmen, in der Sonne herumzuliegen und mit ihrem Mann zu plaudern. Ihr war jede Minute zu lang geworden.
»Oh, da habe ich keine Sorgen. Ich freue mich schon, wenn ich es ausgelesen habe, dann kann ich nämlich noch mal von vorn anfangen.« Einen Moment überlegte Brunetti, ob er womöglich nicht zum ViceQuestore befördert wurde, weil jeder wußte, daß er mit einer Verrückten verheiratet war. Nein, wohl kaum.
Mit weiteren gegenseitigen Ermahnungen, gut auf sich aufzupassen, verabschiedeten sie sich.
22
B runetti rief bei Signorina Elettra an, aber sie war nicht an ihrem Platz, und das Klingeln verhallte ungehört. Daraufhin wählte er Vianellos Nummer und bat ihn zu sich. Ein paar Minuten später kam der Sergente herein. Er war noch ziemlich in derselben Verfassung wie vor zwei Tagen, als sie sich vor der Questura getrennt hatten.
»Buon di, dottore«, sagte er und nahm seinen üblichen Platz auf dem Stuhl vor Brunettis Schreibtisch ein.
»Guten Morgen, Vianello.« Um gar nicht erst auf ihre Debatte von vorgestern früh zurückzukommen, fragte Brunetti gleich: »Wie viele Leute haben wir heute zur Verfügung?«
Vianello überlegte kurz, bevor er antwortete: »Vier, wenn wir Riverre und Alvise mitrechnen.«
Über diese beiden mochte Brunetti ebensowenig reden, darum gab er Vianello die erste Liste aus der Lega-Akte. »Das sind
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