Brunetti 04 - Vendetta
und warf die Körner in weitem Bogen aufs Pflaster, und wieder flatterten die Tauben auf, kreisten und setzten sich dann zum Fressen mitten in den Mais.
Brunetti ging die drei flachen Stufen zum Caffè Florian hinauf und trat durch die Doppeltüren aus geschliffenem Glas. Obwohl er zehn Minuten zu früh da war, schaute er rechts und links in alle die kleinen Räume, sah aber Barbara Zorzi nirgends.
Als ein Kellner im weißen Jackett auf ihn zutrat, bat Brunetti um einen Tisch am Fenster. Ein Teil von ihm wollte an diesem herrlichen Tag mit einer attraktiven jungen Frau im Florian am Fenster sitzen, ein anderer Teil wollte gesehen werden, wie er mit einer attraktiven jungen Frau im Florian am Fenster saß. Er zog einen der zierlichen Stühle mit gebogener Lehne heraus und nahm Platz, dann drehte er sich so, daß er die Piazza überblickte.
Solange Brunetti zurückdenken konnte, war die Fassade der Basilika teilweise von einem Gerüst verdeckt. Ob er sie als Kind einmal unverhüllt gesehen hatte? Wahrscheinlich nicht.
»Guten Morgen, Commissario«, hörte er hinter sich eine Stimme sagen und stand auf, um Barbara Zorzi die Hand zu geben. Er erkannte sie sofort wieder. Schlank und aufrecht stand sie da und begrüßte ihn mit einem herzlichen und erstaunlich kräftigen Händedruck. Ihre dichten Locken waren kürzer, als er es in Erinnerung hatte, und umschlossen das Gesicht wie eine dunkle Kappe. Ihre Augen waren so dunkel, wie Augen nur sein konnten; es bestand fast kein Unterschied zwischen Pupille und Iris. Die Ähnlichkeit mit Elettra war unverkennbar: die gleiche gerade Nase, der volle Mund und das runde Kinn; aber das, was bei der Schwester an eine reife Frucht denken ließ, war bei ihr gedämpft zu einer ernsteren und ruhigeren Schönheit.
»Dottoressa, ich freue mich, daß Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte er, während er ihr den Mantel abnahm.
Sie lächelte und stellte eine behäbige braune Ledertasche auf dem Stuhl am Fenster ab. Er faltete ihren Mantel zusammen und legte ihn über denselben Stuhl, wobei er die Tasche ansah und meinte: »Der Arzt, der immer zu uns kam, als ich noch ein Kind war, hatte genau so eine Tasche.«
»Ich sollte mich vielleicht der Mode anpassen und eine Ledermappe nehmen«, versetzte sie, »aber meine Mutter hat sie mir zum Examen geschenkt, und seitdem benutze ich sie.«
Der Ober kam, und sie bestellten beide Kaffee. Als er weg war, fragte die Ärztin: »Was kann ich für Sie tun, Guido?«
Brunetti fand, daß er nichts zu gewinnen hatte, wenn er verheimlichte, woher seine Informationen stammten, und begann: »Ihre Schwester hat mir erzählt, daß Signora Trevisan zu Ihren Patientinnen gehörte.«
»Und ihre Tochter«, ergänzte die Ärztin, wobei sie nach ihrer Tasche griff und ein zerknittertes Päckchen Zigaretten herausholte. Während sie noch nach dem Feuerzeug kramte, trat ein Ober an ihren Tisch, beugte sich vor und zündete ihr die Zigarette an. »Grazie«, sagte sie, den Kopf der Flamme zugewandt, als wäre sie an solche Dienste gewöhnt. Schweigend entfernte sich der Ober.
Sie zog gierig an ihrer Zigarette, ließ die Tasche zuschnappen und sah Brunetti an. »Kann ich davon ausgehen, daß dies etwas mit seinem Tod zu tun hat?«
»Nach dem derzeitigen Stand unserer Ermittlungen«, sagte Brunetti, »bin ich mir nicht sicher, was mit seinem Tod zu tun hat und was nicht.« Sie spitzte die Lippen, und Brunetti merkte, wie gekünstelt und förmlich seine Worte geklungen hatten. »Das ist die Wahrheit, Barbara. Im Augenblick haben wir noch nicht mehr als das, was wir am Tatort gefunden haben.«
»Er wurde erschossen?«
»Ja. Zwei Schüsse. Eine Kugel muß eine Arterie verletzt haben, denn er ist offenbar sehr schnell gestorben.«
»Warum wollen Sie etwas über seine Familie erfahren?« fragte sie, und ihm fiel auf, daß sie gar nicht wissen wollte, welches Mitglied der Familie ihn interessierte.
»Ich möchte soviel wie möglich über seine Geschäfte, seine Freundschaften, seine Familie wissen, alles, was dazu beiträgt, mir ein Bild von ihm zu machen.«
»Und Sie meinen, das kann Ihnen bei der Suche nach seinem Mörder helfen?«
»Nur so können wir herausbekommen, warum ihn jemand hat umbringen wollen. Danach ist es verhältnismäßig einfach, sich zusammenzureimen, wer es war.«
»Klingt ja sehr optimistisch.«
»Das bin ich nicht«, sagte Brunetti kopfschüttelnd. »Ganz und gar nicht, und ich werde es frühestens sein, wenn ich anfange, ihn zu
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