Brunetti 04 - Vendetta
Deckenmitte.
Mara saß auf der Kante eines der drei Stühle. Weiteres Mobiliar gab es nicht, keinen Tisch, kein Waschbecken, nur die drei Stühle, außerdem verstreute Kippen auf dem Boden. Sie sah auf, als Brunetti hereinkam, erkannte ihn und sagte in zwanglosem Ton: »Guten Morgen.« Sie sah müde aus, als ob sie in der Nacht zuvor nicht gut geschlafen hätte, aber es schien sie nicht sonderlich zu stören, daß sie hier war. Über der Stuhllehne hing dieselbe Leopardenjacke, die sie neulich nachts getragen hatte, aber Bluse und Rock waren neu, wenn auch beide so aussahen, als hätte sie darin geschlafen. Ihr Make-up hatte sich aufgelöst, oder sie hatte es abgewaschen; so oder so sah sie dadurch viel jünger aus, kaum älter als ein Teenager.
»Sie haben das schon öfter erlebt, nehme ich an?« fragte Brunetti, während er sich auf den zweiten Stuhl setzte.
»Öfter als ich zählen kann«, sagte sie, dann fragte sie: »Haben Sie Zigaretten bei sich? Meine sind alle, und der Bulle da draußen macht die Tür nicht auf.«
Brunetti ging zur Tür und klopfte dreimal. Als Gravini öffnete, fragte er ihn, ob er Zigaretten habe, nahm das Päckchen, das der Beamte ihm gab, und brachte es Mara.
»Danke«, sagte sie, nahm ein Plastikfeuerzeug aus ihrer Rocktasche und zündete sich eine an. »Meine Mutter ist an den Dingern gestorben«, erklärte sie, wobei sie die Zigarette vor sich hin und her schwenkte und dem Rauch nachsah, der davon aufstieg. »Ich wollte das in ihren Totenschein eintragen lassen, aber die Ärzte spielten nicht mit. Sie haben ›Krebs‹ hineingeschrieben, dabei hätte es ›Marlboro‹ heißen müssen. Sie hat mich angefleht, nie mit Rauchen anzufangen, und ich habe es ihr versprochen.«
»Hat sie je erfahren, daß Sie rauchen?«
Mara schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat nie etwas erfahren, und vieles andere auch nicht.«
»Zum Beispiel?« fragte Brunetti.
»Zum Beispiel, daß ich schwanger war, als sie starb. Im vierten Monat, aber es war das erstemal, und ich war noch so jung, da hat man nichts gesehen.«
»Vielleicht hätte sie sich gefreut«, meinte Brunetti. »Vor allem, wenn sie wußte, daß sie im Sterben lag.«
»Ich war fünfzehn«, sagte Mara.
»Oh.« Brunetti wandte den Blick ab. »Hatten Sie noch mehr?«
»Mehr was?« fragte sie verwirrt.
»Mehr Kinder. Sie sagten, es war das erste.«
»Nein, das sollte heißen, es war das erstemal, daß ich schwanger war. Dieses eine Kind habe ich bekommen, aber beim zweitenmal hatte ich eine Fehlgeburt, und seitdem bin ich sehr vorsichtig.«
»Wo ist Ihr Kind?«
»In Brasilien, bei der Schwester meiner Mutter.«
»Junge oder Mädchen?«
»Ein Mädchen.«
»Wie alt ist sie jetzt?«
»Sechs.« Sie lächelte, als sie an das Kind dachte. Dann blickte sie auf ihre Füße und wieder auf zu Brunetti, wollte etwas sagen, hielt inne und sagte dann: »Ich habe ein Foto von ihr, wenn Sie es sehen wollen.«
»Ja, gern«, sagte er und zog seinen Stuhl näher.
Sie warf die Zigarette auf den Fußboden, griff in ihre Bluse und zog ein vergoldetes Medaillon von der Größe einer 100-Lire-Münze heraus. Sie drückte auf einen Knopf, damit es aufsprang, und hielt es Brunetti hin, der sich vorbeugte, um besser zu sehen. Auf der einen Seite erkannte er ein Baby mit rundem Gesicht, bis zur Nasenspitze eingemummelt, und auf der anderen Seite ein kleines Mädchen mit langen, dunklen Zöpfen, das in einer Art Schuluniform steif und verlegen dastand. »Sie geht bei den Nonnen in die Schule«, erklärte Mara, während sie den Kopf verdrehte, um das Foto zu sehen. »Ich glaube, das ist besser für sie.«
»Ja, das glaube ich auch«, stimmte Brunetti zu. »Unsere Tochter war bei den Nonnen, bis sie ins Gymnasium kam.«
»Wie alt ist sie?« fragte Mara, indem sie das Medaillon schloß und wieder in ihrer Bluse verschwinden ließ.
»Vierzehn.« Brunetti seufzte. »Ein schwieriges Alter«, sagte er, bevor ihm wieder einfiel, was Mara ihm vor ein paar Sekunden erst erzählt hatte.
Sie hatte es zum Glück wohl auch vergessen und sagte nur: »Ja, schwierig. Ich hoffe, sie ist ein braves Mädchen.«
Brunetti lächelte. »O ja«, sagte er stolz. »Sehr brav.«
»Haben Sie noch mehr Kinder?«
»Einen Sohn, er ist siebzehn.«
Sie nickte, als wüßte sie über siebzehnjährige Jungen mehr, als ihr lieb war.
Sie schwiegen eine Weile. Dann deutete Brunetti mit einer leeren Geste ins Zimmer. »Warum das?« fragte er.
Mara zuckte die Achseln. »Warum
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