Brunetti 05 - Acqua alta
ablehnte.« Er wandte den Blick von der Schale und sah Brett an, versuchte seine Empörung noch einmal nachzuempfinden und ihr verständlich zu machen. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder der Schale zu. »Er lehnte immer noch ab. Da blieb mir keine Wahl. Er ließ mir einfach keine. Ich hatte ihm ein mehr als großzügiges Angebot gemacht, aber er wollte es nicht annehmen. Da mußte ich also zu anderen Mitteln greifen.«
Er blickte auf sie herunter, wollte ihr die Frage entlocken, zu welchen Mitteln er sich denn gezwungen gesehen habe. Und als ihr das Wort durch den Kopf ging, begriff Brett auf einmal, daß dies kein vorbereitetes Drehbuch war, mit dem er sein Vorgehen rechtfertigen wollte, keine konstruierte Szene, um sie auf seine Seite zu ziehen. Er war davon überzeugt. Er hatte etwas haben wollen, und es war ihm verweigert worden, also hatte er sich gezwungen gesehen, es sich zu nehmen. So einfach. Und im selben Moment verstand sie auch ihre eigene Situation: Sie war ihm im Weg, verhinderte, daß er sich offen am Besitz der Keramiken freuen konnte, die er mit so viel Mühe und Kosten aus der Ausstellung im Dogenpalast entwendet hatte. Da wußte sie, daß er sie umbringen, ihr Leben auslöschen würde, ganz einfach so, wie er sie geohrfeigt hatte, als sie seine Frage nicht beantworten wollte. Sie stöhnte unwillkürlich auf, aber er verstand es als Interesse und redete weiter.
»Ich wollte es wie einen gewöhnlichen Einbruch aussehen lassen, aber wenn dann die Schale fehlte, hätte er gewußt, daß ich die Finger im Spiel hatte. Ich dachte daran, sie entwenden und anschließend seine Villa anzünden zu lassen.« Er hielt inne und seufzte bei der Erinnerung. »Aber das brachte ich dann doch nicht fertig. Er hatte so viele schöne Dinge dort, die konnte ich nicht vernichten lassen.« Er senkte die Schale und zeigte ihr die Innenseite. »Sehen Sie sich nur diesen Kreis an und wie die Linien um ihn herumführen und das Muster hervorheben. Woher hatten die nur dieses Können?« Er richtete sich auf und murmelte: »Ein Wunder, ein wahres Wunder.«
Der junge Mann sagte während der ganzen Zeit gar nichts, er stand nur dabei und verfolgte jedes Wort und jede Geste, ohne eine Miene zu verziehen.
Der Ältere seufzte wieder und fuhr fort: »Ich habe ausdrücklich befohlen, es zu tun, wenn er allein war. Ich sah keinen Grund, seine Familie in Mitleidenschaft zu ziehen. Er war eines Nachts auf der Rückfahrt von Siena, da ...« Hier überlegte er kurz, wie er es wohl am zartfühlendsten ausdrücken könnte. »Da hatte er einen Unfall. Sehr bedauerlich. Er verlor auf der Autobahn die Kontrolle über seinen Wagen. Der fing Feuer und verbrannte auf der Standspur. In der Aufregung um seinen Tod merkte niemand von der Familie, daß die Schale weg war.« Seine Stimme wurde sanfter, als er nun wieder ins Philosophieren verfiel. »Ob das wohl auch der Grund ist, warum ich diese Schale so hebe, ich meine, daß ich so viel auf mich nehmen mußte, um sie zu bekommen?« Dann weiter in einem neutraleren Ton: »Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, sie endlich jemandem zeigen zu können, der sie zu würdigen weiß.« Und mit einem Seitenblick auf den jungen Mann fuhr er fort: »Alle hier versuchen meine Begeisterung zu verstehen, sie zu teilen, aber sie haben eben nicht Jahre ihres Lebens mit dem Studium dieser Dinge verbracht, so wie ich. Und wie Sie, Professoressa.«
Sein Lächeln bekam etwas richtig Gütiges. »Möchten Sie die Schale einmal in die Hand nehmen, Dottoressa? Niemand hat sie berührt, seit ich sie, nun ja, seit ich sie erworben habe. Aber Sie werden es sicher zu schätzen wissen, sie in Händen zu halten, die perfekte Wölbung des Bodens zu fühlen. Sie werden erstaunt sein, wie leicht sie ist. Es betrübt mich immer, daß ich nicht die geeigneten wissenschaftlichen Mittel zur Verfügung habe. Ich würde gern mit einem Spektroskop die Zusammensetzung analysieren und sehen, woraus sie gemacht ist; möglicherweise ließe sich daraus ihr geringes Gewicht erklären. Vielleicht möchten Sie mir sagen, was Sie dazu meinen.«
Er lächelte wieder und hielt ihr die Schale hin. Sie zwang sich, ihren starren Körper vom Stuhl zu lösen, und streckte die Hände aus, um sie ihm abzunehmen. Vorsichtig nahm sie das Gefäß und sah hinein. Die schwarzen Linien, von graziöser Hand vor über fünf Jahrtausenden gezogen, schwangen sich über den Boden und führten in scheinbar zufälligen Bögen nach
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