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Brunetti 05 - Acqua alta

Brunetti 05 - Acqua alta

Titel: Brunetti 05 - Acqua alta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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oben, umschlossen die weißen Stellen mit den kleinen schwarzen Kreisen darin, wie auf einer Zielscheibe. Die Schale vibrierte fast vor Lebendigkeit, von der Schalkhaftigkeit des Künstlers. Sie sah, daß die Linien nicht in gleichmäßigen Abständen verliefen, daß Lücken und Abweichungen die menschliche Fehlbarkeit dessen verrieten, der sie gemalt hatte. Durch unwillkürliche Tränen hindurch sah sie die Schönheit einer Welt, in die sie eintreten sollte. Sie betrauerte ihren eigenen Tod und beklagte, daß dieser Mann, der noch immer vor ihr stand, die Macht hatte, solch vollkommene Schönheit zu besitzen.
    »Ist das nicht fabelhaft?« fragte er.
    Brett sah von der Schale auf und blickte ihm in die Augen. Er würde ihr Leben auslöschen, so nebenbei, wie man ein Insekt zertritt. Er würde es tun und weiterleben, besessen von dieser Schönheit, glücklich im alleinigen Besitz dieser Schale, seiner größten Freude. Sie trat einen kleinen Schritt nach hinten und hob die Arme wie eine Tempelpriesterin, bis die Schale auf Höhe ihrer Augen war. Und dann nahm sie ganz langsam, ganz bewußt, die Hände auseinander und ließ die Schale auf den Marmorboden fallen, wo sie zerbarst, daß die Scherben gegen ihre Füße und Beine spritzten.
    Der Mann machte einen Satz vorwärts, aber nicht rechtzeitig genug, um die Schale zu retten. Als sein Fuß auf einer Scherbe landete und sie zu Staub zertrat, taumelte er rückwärts gegen den jüngeren Mann und mußte sich an ihm festhalten. Sein Gesicht lief rot an und wurde ebensoschnell wieder blaß. Er murmelte etwas, das Brett nicht verstand, und drehte sich dann rasch zu ihr um. Er ließ mit einer Hand los und machte einen Schritt auf Brett zu, aber der Jüngere schlang von hinten einen Arm um ihn und zog ihn zurück. Sanft, aber eindringlich flüsterte er dem Älteren etwas ins Ohr, während er ihn festhielt und so verhinderte, daß er an Brett herankam: »Nicht hier«, sagte er. »Nicht hier, wo alle deine schönen Sachen sind.« Der Altere knurrte eine unverständliche Antwort. »Ich mache das«, sagte der Jüngere. »Unten.«
    Als die beiden miteinander sprachen und dabei immer lauter wurden, steckte Brett die rechte Hand in ihre Tasche und umfaßte das schmale Ende der Gürtelschließe; das andere Ende war spitz, und die Kanten waren dünn genug zum Schneiden. Während sie die Männer beobachtete und ihnen zuhörte, begannen deren Stimmen von ihr wegzuschweben und wieder zu ihr zurückzukommen. Zugleich merkte Brett, daß sie die Kälte nicht mehr spürte; ganz im Gegenteil, ihr war brennend heiß. Doch die beiden redeten immer weiter, immer schneller und erregter. Sie befahl sich, stehenzubleiben und ihre Waffe in der Hand zu behalten, aber plötzlich war ihr die Anstrengung zuviel, und sie ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Ihr Kopf fiel nach vorn, und sie sah die Scherben zu ihren Füßen, ohne sich zu erinnern, woher sie kamen.
    Nach einer Ewigkeit hörte sie die Tür aufgehen und wieder zuschlagen, und als sie aufsah, war nur noch der jüngere Mann da. Wieder ein Zeitsprung, dann fühlte sie, wie er sie am Arm packte und hochzog. Sie ging mit ihm zur Tür hinaus, die Treppen hinunter, während ihr bei jedem Schritt der Kopf vor Schmerzen explodierte, dann weitere Stufen hinunter, durch den überschwemmten Innenhof, in den noch immer der Regen herunterprasselte, zu einer ebenerdigen Holztür.
    Ohne ihren Arm loszulassen - sie mußte beinah lachen, weil das so unnötig war -, drehte er den Schlüssel um und zog die Tür auf. Sie blickte hinein und sah niedrige Stufen in schimmernde Dunkelheit hinabführen. Von der ersten Stufe an war die Dunkelheit greifbar, und auf ihrer Oberfläche sah sie Licht auf Wasser spiegeln.
    Der Mann faßte sie noch fester. Er stieß sie vorwärts, und sie taumelte durch die Türöffnung, wobei ihre Füße automatisch nach den Stufen unter dem Wasser suchten. Die erste fand sie, aber die zweite war glitschig von Tang und Moos, und ihr Fuß glitt unter ihr weg. Sie hatte noch Zeit, die Arme vor ihr Gesicht zu reißen, dann stürzte sie vornüber in das noch immer steigende Wasser.

23
    Flavia wollte nur eines: die Musik abschalten, die so lächerlich durch die Wohnung hallte. Als sie zum Bücherregal ging, erklangen Holzbläser und Violinen in erhabener Schönheit, doch sie wollte nur den Trost der Stille. Sie sah die komplizierte Stereoanlage an, hilflos gefangen in den Tönen, die da herauskamen, und verfluchte sich, weil sie sich nie

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