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Brunetti 05 - Acqua alta

Brunetti 05 - Acqua alta

Titel: Brunetti 05 - Acqua alta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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besessen, der für Brunetti undurchschaubar war, sooft er ihn auf englisch oder italienisch zu lesen versucht hatte, schien Henry James demnach der andere Mann in Paolas Leben zu sein.
    »Wie geht denn das Zitat?«
    »Er hat damit einmal jemandem geantwortet, der ihn in fortgeschrittenem Alter fragte, was er aus seinen Erfahrungen gelernt habe.«
    Brunetti wußte, was von ihm erwartet wurde, und fragte gehorsam: »Und was hat er ihm gesagt?«
    »Be kind and then he kind and then be kind«, sagte sie auf englisch.
    Brunetti konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Mit oder ohne Kommata?« fragte er.
    Sie warf ihm einen bösen Blick zu. Offensichtlich kein Tag für Scherze, schon gar nicht über den Meister. Um dem Blick zu entrinnen, sagte er: »Scheint mir ein seltsames Zitat für den Beginn einer Literaturvorlesung.«
    Sie überlegte, ob sie noch auf seine Bemerkung über die Kommata eingehen oder sich der zweiten zuwenden sollte. Zu seinem Glück - denn er wollte heute abend wirklich gern noch etwas essen - entschied sie sich für letzteres. »Wir fangen morgen mit Whitman und Dickinson an, und mit diesem Zitat hoffe ich, einige meiner widerwärtigeren Studenten friedlich zu stimmen.«
    »Il piccolo marchesino?« fragte er, eine Verkleinerungsform, mit der er Vittorio, den gesetzlichen Erben des Marchese Francesco Bruscoli, verächtlich machte. Man hatte Vittorio offenbar nahegelegt, sein Studium an den Universitäten von Bologna, Padua und Ferrara abzubrechen, und so war er vor einem halben Jahr schließlich an die Ca' Foscari gekommen und hatte sich für Englische Literatur eingeschrieben, nicht weil er sich für Literatur begeisterte oder interessierte - eigentlich interessierte er sich für nichts, was dem geschriebenen Wort auch nur ähnelte -, sondern einfach deshalb, weil er dank der englischen Kindermädchen, die ihn aufgezogen hatten, die Sprache fließend beherrschte.
    »Er ist ein derartiges Charakterschwein«, sagte Paola heftig. »Richtig bösartig.«
    »Was hat er denn jetzt wieder getan?«
    »Ach, Guido, es geht nicht darum, was er tut. Es geht darum, was er sagt und wie er es sagt. Ob Kommunisten, Abtreibung oder Schwule. Es muß nur eines dieser Themen aufkommen, schon macht er sich darüber her wie eine schleimende Schnecke. Wie toll es sei, daß der Kommunismus in Europa jetzt besiegt ist; daß Abtreibung eine Sünde wider Gott sei. Und die Schwulen -«, sie gestikulierte zum Fenster hin, als wollte sie die Dächer draußen fragen, ob sie das verstehen könnten. »Mein Gott, er findet, man sollte sie alle zusammentreiben und in Konzentrationslager stecken, und wer Aids hat, soll in Quarantäne. Manchmal möchte ich ihm eine reinhauen«, sagte sie mit noch so einer Handbewegung, aber es war, wie sie selbst merkte, ein schwacher Schluß.
    »Wie kommen solche Themen in ein Literaturseminar, Paola?«
    »Es kommt ja selten vor«, räumte sie ein. »Aber ich höre auch von anderen Professoren so einiges über ihn.« Sie drehte sich zu Brunetti um und fragte: »Du kennst ihn nicht, oder?«
    »Nein, aber ich kenne seinen Vater.«
    »Was ist der für ein Mensch?«
    »Ungefähr dasselbe Kaliber. Charmant, reich, gutaussehend. Und durch und durch bösartig.«
    »Das ist ja das Gefährliche an ihm. Er sieht gut aus und ist sehr reich, und viele Studenten würden über Leichen gehen, um mit einem Marchese gesehen zu werden, mag er auch noch so ein Widerling sein. Also äffen sie ihn nach und reden ihm nach dem Mund.«
    »Aber warum macht er dir jetzt solches Kopfzerbrechen?«
    »Weil ich morgen mit Whitman und Dickinson anfangen will, das habe ich doch schon gesagt.«
    Brunetti wußte, daß es sich um Dichter handelte, ersteren hatte er gelesen und nicht gemocht, während er Emily Dickinson zuerst schwierig, aber mit wachsendem Verständnis dann wunderbar gefunden hatte. Er schüttelte den Kopf, was hieß, daß er das näher erklärt haben wollte.
    »Walt Whitman war homosexuell, und die Dickinson wahrscheinlich auch. Darum will ich mit diesem Zitat anfangen.«
    »Und du glaubst, das würde etwas ändern?«
    »Wahrscheinlich nicht«, räumte sie ein, dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und versuchte ein wenig Ordnung darauf zu schaffen.
    Brunetti setzte sich in den Sessel an der Wand und streckte die Beine von sich. Paola klappte weiter Bücher zu und legte Zeitschriften zu ordentlichen Stapeln zusammen. »Ich durfte mir heute so was Ähnliches anhören«, sagte er.
    Sie hielt in ihrem Tun inne und

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