Brunetti 05 - Acqua alta
der Aufforderung, nicht hinzugehen.«
»Dottoressa Lynch?« fragte Lele.
Brunetti nickte.
»Hast du schon mit Semenzato gesprochen?« wollte Lele wissen.
»Nein, ich will nicht die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Die sollen ruhig glauben, daß ihre Warnung Erfolg hatte.«
Lele nickte und fuhr sich mit der Hand leicht über die Lippen, wie er es immer tat, wenn er über einem Problem brütete.
»Könntest du dich ein bißchen umhören, Lele? Ob über ihn geredet wird.«
»Woran denkst du?«
»Ich weiß nicht recht. Schulden vielleicht. Frauen. Vielleicht kannst du herausbekommen, wer dieser Händler war oder was er sonst für Leute kennt, die in dem Gewerbe ...« Er ließ den Satz unbeendet, weil er nicht recht wußte, wie er es bezeichnen sollte.
»Er kennt von Berufs wegen jeden in der Branche.«
»Das weiß ich. Aber ich will wissen, ob er in etwas Illegales verwickelt ist.« Als Lele nicht antwortete, sagte Brunetti: »Ich bin mir nicht einmal sicher, was das bedeutet, und ich bin auch nicht sicher, ob du es herausbekommen kannst.«
»Ich bekomme alles heraus«, meinte Lele ruhig; es war eine nüchterne Feststellung, keine Angeberei. Er schwieg eine Weile und fuhr sich weiter mit der Hand über die geschlossenen Lippen. Schließlich ließ er die Hand sinken und sagte: »Gut. Ich kenne ein paar Leute, die ich fragen kann, aber ich brauche einen oder zwei Tage Zeit. Einer, mit dem ich sprechen muß, ist in Burma. Ich rufe dich Ende der Woche an. Reicht dir das?«
»Hervorragend, Lele. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
Der Maler winkte ab. »Danke mir erst, wenn ich etwas herausgefunden habe.«
»Sofern es etwas herauszufinden gibt«, ergänzte Brunetti, wie um etwas von der Antipathie wegzunehmen, die er bei Lele gegenüber dem Museumsdirektor gespürt hatte.
»Etwas gibt es immer.«
6
Als er aus Leles Galerie kam, bog er nach links in die calle, die zu der langen, offenen Fondamenta delle Zattere am Canale della Giudecca führte. Übers Wasser sah er die Kirchen Le Zitelle und weiter drüben Il Redentore mit ihren hoch aufragenden Kuppeln liegen. Von Osten wehte ein scharfer Wind, der den Wellen Schaumkrönchen aufsetzte und die Vaporetti herumtanzen ließ wie Spielzeug in einer Badewanne. Selbst aus der Entfernung hörte er das Donnern, als eines der Boote gegen den Anleger krachte, sah es sich aufbäumen und an seiner Vertäuung zerren. Er schlug den Kragen hoch und ließ sich vom Wind schieben, wobei er sich rechts, dicht an den Gebäuden hielt, um der Gischt auszuweichen, die von der Mauer hochsprühte. Il Cucciolo, die Uferbar, in der Paola und er in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft so viele Stunden gesessen hatten, war geöffnet, die große hölzerne Plattform auf dem Wasser davor leer, alle Tische, Stühle und Sonnenschirme waren verschwunden. Für Brunetti war es das erste richtige Anzeichen des Frühlings, wenn diese Tische und Stühle nach ihrem Winterschlaf wieder zum Vorschein kamen. Heute ließ dieser Gedanke ihn frösteln. Die Bar hatte zwar geöffnet, aber er machte einen Bogen darum, denn die Ober hier waren die ungezogensten in der ganzen Stadt, und man konnte ihre arrogante Langsamkeit nur im Tausch gegen Mußestunden in der Sonne ertragen.
Hundert Meter weiter, hinter der Gesuati-Kirche, zog er die Glastür auf und schlüpfte in die willkommene Wärme von Nicos Bar. Er stampfte ein paarmal mit den Füßen auf den Boden, knöpfte seinen Mantel auf und ging an den Tresen. Er bestellte sich einen Grog und sah zu, wie der Ober ein Glas unter die Espressomaschine hielt und daraus einen Dampfstrahl schießen ließ, der rasch zu kochendheißem Wasser kondensierte. Rum, eine Scheibe Zitrone, ein großzügiger Schuß aus einer anderen Flasche, dann stellte der Barmann ihm das Glas hin. Drei Löffel Zucker, und Brunetti war gerettet. Langsam rührte er um, angeregt von dem aromatischen Duft, der ihm langsam in die Nase stieg. Wie die meisten Getränke schmeckte es nicht so gut, wie es roch, aber Brunetti war an diese Tatsache so gewöhnt, daß es ihn nicht mehr enttäuschte.
Die Tür ging auf, und ein Windstoß blies zwei junge Mädchen herein. Sie trugen Skianoraks, mit Pelz gefüttert, der oben herausquoll und ihre geröteten Gesichter umrahmte, dicke Stiefel, Handschuhe und Wollhosen. Sie sahen aus wie Amerikanerinnen, vielleicht auch Deutsche; wenn sie reich genug waren, konnte man das oft nur schwer erkennen.
»Oh, Kimberley, bist du sicher, daß wir hier richtig
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