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Brunetti 05 - Acqua alta

Brunetti 05 - Acqua alta

Titel: Brunetti 05 - Acqua alta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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froh um die Wärme, in der er plötzlich merkte, wie kalt seine Füße waren. Er trat neben Chiara und beugte sich so weit vor, daß sie ihm das Mandarinenstück in den Mund schieben konnte. Dann noch eins und noch eins. Während er kaute, aß sie die restlichen Stücke, die auf einem Teller neben ihr lagen.
    »Papà, du hältst das Streichholz«, sagte sie und griff nach einem Streichholzbriefchen auf dem Tisch. Gehorsam löste er eines heraus, zündete es an und hielt die Flamme vor sie hin. Sie nahm eine Mandarinenschale und bog sie um, bis die beiden Enden sich berührten. Dabei schoß ein feiner Strahl ätherischen Öls aus der Schale und loderte auf wie ein buntes Feuerwerk. »Che bello«, sagte Chiara mit großen Augen, in denen sich neben den Farben ein Entzücken spiegelte, das offenbar nie kleiner wurde, so oft sie das Spielchen auch spielten.
    »Gibt's noch mehr?« fragte Brunetti.
    »Nein, papà, das war die letzte.« Er zuckte die Achseln, aber erst, nachdem ein Ausdruck echten Bedauerns über ihr Gesicht gehuscht war. »Tut mir leid, daß ich sie alle aufgegessen habe, papà. Es sind aber noch Orangen da. Soll ich dir eine schälen?«
    »Nein, Engelchen, ist schon gut. Ich warte bis zum Abendessen.« Er streckte den Kopf vor und versuchte einen Blick in die Küche zu werfen. »Wo ist mamma?«
    »In ihrem Arbeitszimmer«, sagte Chiara, während sie sich wieder ihrem Buch zuwandte. »Und sie ist arg schlecht gelaunt, ich weiß also nicht, wann es was zu essen gibt.«
    »Woher weißt du, daß sie schlechte Laune hat?« fragte er.
    Sie sah zu ihm auf und verdrehte die Augen. »Ach, papà, stell dich nicht so dumm. Du weißt genau, wie sie ist, wenn sie schlechte Laune hat. Zu Raffi hat sie gesagt, sie kann ihm nicht bei seinen Hausaufgaben helfen, und mich hat sie angebrüllt, nur weil ich heute morgen den Müll nicht mit runtergenommen habe.« Sie legte das Kinn auf die Fäuste und blickte auf ihr Buch. »Ich kann es nicht leiden, wenn sie so ist.«
    »Weißt du, sie hatte in letzter Zeit ziemlichen Ärger an der Uni, Chiara.«
    Sie blätterte eine Seite um. »Ja, ja, du hältst immer zu ihr. Aber es macht keinen Spaß mit ihr, wenn sie so ist.«
    »Ich rede mal mit ihr. Vielleicht hilft es.« Beide wußten, wie unwahrscheinlich das war, aber als die Optimisten in der Familie lächelten sie einander hoffnungsvoll zu.
    Chiara beugte sich wieder über ihr Buch, und Brunetti bückte sich, drückte ihr einen Kuß aufs Haar und schaltete im Hinausgehen die Deckenlampe ein. Am Ende des Flurs blieb er vor der Tür zu Paolas Arbeitszimmer stehen. Es half meist wenig, mit ihr zu reden, aber Zuhören brachte manchmal etwas. Er klopfte.
    »Avanti«, rief sie, und er öffnete die Tür. Noch bevor er Paola an der Glastür zur Terrasse stehen sah, sprang ihm das Chaos auf ihrem Schreibtisch in die Augen. Papiere, Bücher und Zeitschriften lagen darauf verstreut; manche aufgeschlagen, manche geschlossen, manche steckten als Lesezeichen in anderen. Nur ein Illusionist oder ein Sehbehinderter hätte Paola als ordentlich bezeichnet, aber dieses Durcheinander sprengte selbst ihre sehr weiten Grenzen. Sie drehte sich um und sah seinen Blick. »Ich suche etwas«, erklärte sie.
    »Den Mörder von Edwin Drood?« fragte er, in Anspielung auf einen Artikel, an dem sie letztes Jahr drei Monate lang geschrieben hatte. »Ich dachte, den hättest du schon gefunden.«
    »Mach jetzt keine Witze, Guido«, sagte sie in diesem Ton, den sie immer an sich hatte, wenn Humor so willkommen war wie der frühere Freund der Braut. »Ich habe den ganzen Nachmittag damit zugebracht, nach einem Zitat zu suchen.«
    »Wofür brauchst du es denn?«
    »Für ein Seminar. Ich will mit dem Zitat anfangen, und dazu muß ich denen ja sagen, woraus es ist, also muß ich die Quelle finden.«
    »Von wem ist es denn?«
    »Vom Meister«, antwortete sie, und Brunetti sah ihren Blick ganz verträumt werden, wie immer, wenn sie von Henry James sprach. Hatte es einen Sinn, eifersüchtig zu sein? überlegte er. Eifersüchtig auf einen Mann, der sich nach allem, was Paola über ihn erzählt hatte, offenbar nicht nur nicht entscheiden konnte, welcher Nationalität er war, sondern sogar welchen Geschlechts?
    Das ging nun seit zwanzig Jahren so. Der Meister hatte sie auf ihrer Hochzeitsreise begleitet, war im Krankenhaus bei der Geburt beider Kinder dabeigewesen und schien sich in jedem Urlaub an sie zu hängen. Hartnäckig, phlegmatisch und von einem Erzählstil

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