Brunetti 05 - Acqua alta
Raum, und aus dem Papierkorb quoll zusammengeknülltes Einwickelpapier von Fantin und Biancat, den beiden Blumengeschäften, die Venezianer noch am ehesten aufsuchen würden. Es mußten aber auch Amerikaner, jedenfalls Ausländer, darunter gewesen sein: Kein Italiener würde einer Kranken solche riesigen Chrysanthemensträuße schicken, diese Blumen dienten ausschließlich für Beerdigungen und als Grabschmuck. Er stellte fest, daß es ihm unbehaglich war, solche Blumen in einem Krankenzimmer zu sehen, aber er tat dies Gefühl als schlimmste Form des Aberglaubens ab.
Es waren, wie er entweder erwartet oder gehofft hatte, beide Damen im Zimmer, Brett an das hochgestellte Kopfteil des Betts gelehnt, den Kopf zwischen zwei Kissen, Flavia auf einem Stuhl neben ihr. Zwischen ihnen lagen auf der Bettdecke farbige Skizzenblätter von Frauen in langen, prächtigen Roben, jede mit einem Diadem auf dem Kopf, das ihr einen juwelenfunkelnden Strahlenkranz aufsetzte. Brett sah von den Bildern auf, als Brunetti hereinkam, und bewegte die Lippen leicht; das Lächeln stand nur in ihren Augen. Nach einer kleinen Weile - und etwas kühler - tat Flavia dasselbe.
»Guten Morgen«, sagte er, dann warf er einen Blick auf die Skizzen. Das Wellenmuster am Saum von zweien der Kleider wirkte orientalisch. Aber statt aus den üblichen Drachen bestand das Muster aus abstrakten Klecksen, die einander in grellen Farben zu übertreffen suchten und dabei doch eher den Eindruck von Harmonie erweckten, nicht von Dissonanz.
»Was ist das?« fragte Brunetti mit unverhohlener Neugier, bevor ihm einfiel, daß er sich eigentlich nach Bretts Befinden hätte erkundigen sollen.
Flavia antwortete. »Skizzen für die neue Turandot-Inszenierung an der Scala.«
»Sie werden also singen?« fragte er. Seit Wochen wurde darüber schon in der Presse spekuliert, obwohl die Premiere erst in einem Jahr sein sollte. Die Sopranistin, deren Name in diesem Zusammenhang gerüchteweise erwähnt worden war - so pflegte man sich von seilen der Scala auszudrücken -, hatte von einer interessanten Möglichkeit gesprochen, über die sie nachdenken werde, was klar hieß, daß sie nicht im Traum daran dachte. Flavia Petrelli, die diese Rolle noch nie gesungen hatte, wurde als nächste Möglichkeit genannt, und sie hatte vor gerade erst zwei Wochen eine Presseerklärung abgegeben und gesagt, sie denke nicht im Traum daran, was unter Sopranistinnen schon beinah einer festen Zusage gleichkam.
»Sie sollten lieber nicht versuchen, Turandots Rätsel zu lösen«, sagte Flavia in bemüht leichtem Ton, womit sie ihm zu verstehen gab, daß er etwas gesehen hatte, was er eigentlich nicht hatte sehen sollen. Sie beugte sich vor und sammelte die Zeichnungen ein. Beides zusammen hieß, daß er darüber nicht reden sollte.
»Wie geht es Ihnen?« fragte er nun endlich Brett.
Obwohl Bretts Kiefer nicht mehr fixiert waren, sah ihr Lächeln mit dem leicht offenen Mund und den hochgezogenen Mundwinkeln immer noch etwas schwachsinnig aus. »Besser. Noch einen Tag, und ich kann nach Hause.«
»Zwei«, korrigierte Flavia.
»Ein oder zwei Tage«, verbesserte sich Brett. Und als sie ihn noch immer im Mantel herumstehen sah, sagte sie: »Entschuldigung. Setzen Sie sich doch.« Sie deutete auf einen Stuhl hinter Flavia. Brunetti holte ihn sich, stellte ihn neben das Bett, zog den Mantel aus und legte ihn zusammengefaltet über die Lehne, bevor er sich setzte.
»Fühlen Sie sich in der Lage, über das Geschehene zu sprechen?« fragte er, an beide Frauen gewandt.
»Aber wir haben doch darüber gesprochen, oder nicht?« erwiderte Brett erstaunt.
Brunetti nickte, dann fragte er: »Was haben die Männer gesagt? Was genau? Können Sie sich daran erinnern?«
»Genau?« wiederholte sie verwirrt.
»Ich meine, ob sie so viel geredet haben, daß Sie dem entnehmen konnten, woher sie kamen?« half Brunetti nach.
»Ach so.« Brett schloß die Augen und versetzte sich kurz zurück in den Flur ihrer Wohnung, sah wieder die Männer vor sich, hörte ihre Stimmen. »Sizilianer. Jedenfalls der eine, der mich geschlagen hat. Bei dem anderen bin ich mir nicht sicher. Er hat sehr wenig gesprochen.« Sie sah Brunetti an. »Was spielt das für eine Rolle?«
»Es könnte uns helfen, sie zu finden.«
»Das will ich aber auch hoffen«, mischte Flavia sich ein, ohne daß man hätte erkennen können, ob es hoffnungs- oder vorwurfsvoll gemeint war.
»Hat eine von Ihnen jemanden auf den Fotos erkannt?« fragte er,
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