Brunetti 05 - Acqua alta
nicht.« Normalerweise hätte Brunetti noch gesagt, daß er informiert werden wolle, wenn der Anschluß angezapft war, aber er sagte jetzt nichts. Der Sergente schob seinen Stuhl ein paar Zentimeter nach vorn, bis er genau vor Brunettis Schreibtisch stand, hob andeutungsweise die Hand zum Gruß und ging. Brunetti genügte es vollauf, sich mit einer Primadonna in Cannaregio abgeben zu müssen. Er brauchte nicht noch eine hier in der Questura.
15
Als Brunetti eine Viertelstunde später die Questura verließ, hatte er seine Gummistiefel an und seinen Schirm dabei. Er wandte sich nach links in Richtung Rialtobrücke, bog aber dann rechts ab und gleich wieder links und ging kurz danach über die Brücke, die auf den Campo Santa Maria Formosa führte. Direkt vor ihm, auf der anderen Seite des campo stand der Palazzo Priuli, leer, so lange er zurückdenken konnte, Zankapfel in erbitterten Auseinandersetzungen um ein strittiges Testament. Während Erben und mutmaßliche Erben darüber stritten, wem er gehörte oder gehören sollte, widmete der Palazzo sich seinem Verfall mit einer Sturheit, die sich um Erben, Ansprüche und Gerechtigkeit nicht kümmerte. Lange Roststreifen verliefen von den Eisengittern, die ihn vor unbefugtem Zutritt schützen sollten, an seinen Mauern herunter, und das Dach hatte sich verzogen und verworfen und hatte hier und dort Risse, durch die der Regen in den schon seit so vielen Jahren verschlossenen Dachboden sickerte. Brunetti, der Träumer, hatte sich schon oft vorgestellt, daß der Palazzo Priuli der ideale Ort wäre, um eine verrückte Tante einzusperren, eine aufsässige Ehefrau oder eine widerspenstige Erbin, während er als der nüchtern und praktisch denkende Venezianer die vorzügliche Immobilie dann sah und die Fenster betrachtete, hinter denen sich die Räume in Wohnungen, Büros und Ateliers unterteilten.
Murinos Geschäft lag, wie er sich undeutlich erinnerte, an der Nordseite zwischen einer Pizzeria und einem Maskenladen. Die Pizzeria war den Winter über geschlossen und wartete auf die Rückkehr der Touristen, aber der Maskenladen sowie das Antiquitätengeschäft hatten geöffnet und schickten ihr helles Licht durch den spätwinterlichen Regen.
Als Brunetti die Tür aufstieß, ertönte im rückwärtigen Teil des Ladens, irgendwo hinter schweren blaßrosa Samtportieren, eine Glocke. Der Raum strahlte den sanften Glanz von Wohlstand aus, altem, gediegenem Wohlstand. Erstaunlicherweise waren nur wenige Stücke ausgestellt, doch ein jedes verlangte die volle Aufmerksamkeit des Betrachters. Im Hintergrund stand eine Nußbaumkredenz mit fünf Schubladen untereinander auf der linken Seite, und das schimmernde Holz sprach von Jahrhunderten sorgsamer Pflege. Gleich neben Brunetti stand ein langer Eichentisch, wahrscheinlich aus dem Refektorium eines Ordenshauses. Auch er war auf matt glänzend poliert, aber es war kein Versuch unternommen worden, die Kerben und Flecken langjährigen Gebrauchs zu beseitigen. Zu seinen Füßen duckten sich zwei Marmorlöwen, die Zähne gebleckt zu einer Drohgebärde, die vielleicht einmal Furcht eingeflößt hatte. Aber die Zeit hatte ihre Zähne abgewetzt und ihre Züge weicher gemacht, bis sie ihre Feinde nun eher angähnten als anknurrten.
»C'è qualcuno?« rief Brunetti in den hinteren Raum. Bei einem Blick auf den Fußboden sah er, daß sein zugeklappter Schirm schon eine große Pfütze auf dem Parkett hinterlassen hatte. Signor Murino mußte sowohl Optimist als auch Nichtvenezianer sein, daß er sich hier einen Parkettboden hatte legen lassen, denn dieser Teil der Stadt lag tief, und das erste richtige Hochwasser würde garantiert eindringen, das Holz zerstören und den ganzen schönen Glanz mit fortschwemmen, wenn die Ebbe kam.
»Buon giorno«, rief er und ging ein paar Schritte auf die verhängte Türöffnung zu, wobei er eine Spur aus Regentropfen auf dem Boden hinterließ.
Am Vorhang erschien eine Hand und schob ihn beiseite. Der Mann, der heraustrat, war derselbe, den Brunetti schon einmal in der Stadt gesehen hatte, als ihn jemand - er wußte nicht mehr, wer - auf ihn aufmerksam gemacht und gesagt hatte, das sei der Antiquitätenhändler von Santa Maria Formosa. Murino war klein, wie viele Südländer, und hatte glänzendschwarzes Haar, das ihm lockig bis auf den Kragen fiel. Sein Teint war dunkel, die Haut glatt, der Gesichtsschnitt fein und wohlproportioniert. Das einzige, was in diesem Abziehbild mediterraner Schönheit störte, waren die
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