Brunetti 05 - Acqua alta
Augen - ein klares Opalgrün. Obwohl sie teilweise verdeckt durch runde, goldumrandete Brillengläser in die Welt blickten und von ebenso langen wie dunklen Wimpern beschattet wurden, waren sie doch das Beherrschende in seinem Gesicht. Brunetti wußte, daß die Franzosen vor Jahrhunderten einmal Neapel eingenommen hatten, aber das genetische Souvenir ihrer langen Besatzung war normalerweise das rote Haar, dem man gelegentlich in der Stadt begegnete, nicht diese hellen nordischen Augen.
»Signor Murino?« fragte er und streckte die Hand aus.
»Sì«, antwortete der Antiquitätenhändler, wobei er Brunettis Hand ergriff und den festen Druck erwiderte.
»Guido Brunetti, Commissario der Polizei. Ich hätte gern mit Ihnen gesprochen.«
Murinos Gesicht blieb höflich interessiert.
»Ich möchte Ihnen einige Fragen über Ihren Partner stellen. Oder sollte ich sagen, Ihren verstorbenen Partner?«
Brunetti sah Murino diese Information verarbeiten und wartete, während der andere zu überlegen begann, was er für eine Reaktion zeigen sollte. Das alles dauerte nur Sekunden, aber Brunetti beobachtete diesen Vorgang schon seit Jahrzehnten und kannte ihn gut. Leute, denen er sich vorstellte, verfügten über eine ganze Skala von Reaktionen, die sie für angemessen hielten, und es gehörte zu seinem Beruf, ihnen dabei zuzusehen, wie sie eine nach der anderen durchgingen, bis sie die richtige fanden. Überraschung? Angst? Ahnungslosigkeit? Neugier? So beobachtete er jetzt auch Murinos Gesicht, während dieser die verschiedenen Möglichkeiten in Betracht zog und verwarf. Offensichtlich entschied er sich für die letzte.
»Ja? Und was möchten Sie gern wissen, Commissario?« Sein Lächeln war höflich, sein Ton freundlich. Jetzt sah er Brunettis Regenschirm. »Ach, darf ich Ihnen den abnehmen?« sagte er, wobei er den Eindruck zu erwecken verstand, es ginge ihm mehr um Brunettis Wohlbefinden als um den Schaden, den die Wassertropfen seinem Fußboden zufügen konnten. Er nahm den Schirm und brachte ihn zu einem mit Blumen bemalten Schirmständer aus Porzellan neben der Tür. Er stellte ihn hinein, drehte sich zu Brunetti um und fragte: »Darf ich Ihnen auch den Mantel abnehmen?«
Brunetti merkte, daß Murino versuchte, den Ton ihres Gesprächs zu bestimmen, und der sollte herzlich und entspannt sein, ein Ausdruck seiner Unschuld eben. »Danke, nicht nötig«, antwortete Brunetti, um damit wieder selbst den Ton anzugeben. »Können Sie mir sagen, wie lange er Ihr Teilhaber war?«
»Fünf Jahre«, antwortete Murino, »seit dem Tag, an dem ich den Laden hier eröffnet habe.«
»Und der in Mailand? Erstreckte sich die Teilhaberschaft auch darauf?«
»O nein. Das sind voneinander unabhängige Geschäfte. Die Teilhaberschaft galt nur für diesen hier.«
»Und wie kam es zu dieser Teilhaberschaft?«
»Nun, Sie wissen, wie das geht. Es spricht sich herum.«
»Nein, leider weiß ich nicht, wie das geht, Signor Murino. Wie wurde er Ihr Teilhaber?«
Murinos Lächeln blieb gelassen; er war gewillt, über Brunettis Ungezogenheit hinwegzusehen. »Als sich mir die Gelegenheit bot, hier Räume zu mieten, habe ich von Freunden in Venedig Geld zu leihen versucht. Ich hatte einen großen Teil meines Kapitals in die Lagerbestände des Mailänder Geschäfts investiert, und der Antiquitätenmarkt stagnierte damals etwas.«
»Aber dennoch wollten Sie ein zweites Geschäft eröffnen?«
Murinos Lächeln war jetzt geradezu engelhaft. »Ich setzte meine Hoffnung auf die Zukunft. Die Leute kaufen vielleicht eine Zeitlang nichts, aber so etwas ändert sich, und letzten Endes wollen sie doch immer wieder schöne Dinge haben.«
Wäre Murino eine Frau gewesen, hätte Brunetti gesagt, daß sein Gegenüber nach Komplimenten angelte und ihn dazu bringen wollte, die Stücke im Laden zu bewundern, womit die durch seine Fragen entstandene Spannung wieder etwas gemildert wäre.
»Und, wurde Ihr Optimismus belohnt?«
»Ich kann nicht klagen.«
»Und Ihr Teilhaber? Wie hat er erfahren, daß Sie sich Geld leihen wollten?«
»Ach, so etwas hört man eben. Das spricht sich herum.«
»Und da ist er also mit einem Bündel Geld hier erschienen und hat Ihnen seine Teilhaberschaft angeboten?«
Murino ging zu einer Brauttruhe aus der Renaissance und rieb mit dem Taschentuch an einem Fingerabdruck herum. Er bückte sich, bis seine Augen auf gleicher Höhe mit der Oberfläche waren, und wischte mehrmals über den Schmierfleck, bis er verschwunden war. Dann
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