Brunetti 05 - Acqua alta
ihr auf. Als sie draußen war, kehrte er zu seinem Stuhl zurück, und Brunetti sah sich noch einmal die Papiere auf seinem Schreibtisch an, ohne etwas Erhellendes zu finden.
»Ich war bei der Frau, Commissario. Der Witwe, meine ich.«
»Ja, ich habe Ihren Bericht gelesen. Er kam mir sehr kurz vor.«
»Es war kurz, Commissario«, stellte Vianello sachlich fest. »Es gab nicht viel zu sagen. Sie war krank vor Trauer um ihn und konnte kaum sprechen. Ich habe ihr ein paar Fragen gestellt, aber sie hat die ganze Zeit geweint, da mußte ich aufhören. Ich weiß nicht einmal, ob sie verstanden hat, warum ich da war oder warum ich ihr diese Fragen stellte.«
»War die Trauer echt?« wollte Brunetti wissen. Als altgediente Polizisten hatten sie beide schon so oft echte und gespielte Trauer gesehen, daß es ihnen für mehrere Leben reichte.
»Ich glaube schon.«
»Was ist sie für ein Mensch?«
»Um die Vierzig, zehn Jahre jünger als er. Keine Kinder, demnach war er alles, was sie hatte. Ich glaube nicht, daß sie gut hierher paßte.«
»Warum nicht?« fragte Brunetti.
»Semenzato war Venezianer, aber sie kommt aus dem Süden. Sizilien. Und sie hat sich hier nie wohl gefühlt. Sie sagt, wenn alles vorbei ist, will sie wieder nach Hause.«
Brunetti fragte sich, wie viele Fäden in dieser Angelegenheit eigentlich noch nach Süden wiesen. Natürlich durfte der Geburtsort dieser Frau ihn nicht dazu verleiten, sie krimineller Machenschaften zu verdächtigen. Nachdem er sich das vorgehalten hatte, sagte er: »Ich will, daß ihr Telefon abgehört wird.«
»Das von Signora Semenzato?« Vianellos Erstaunen war hörbar.
»Über wen haben wir denn sonst gesprochen?«
»Aber ich war doch gerade bei ihr, und sie kann sich kaum auf den Beinen halten. Ihre Trauer ist nicht gespielt, Commissario. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Ihre Trauer steht nicht im Zweifel, Vianello. Nur ihr Mann.« Brunetti hätte auch zu gern gewußt, wieviel der Witwe über das Treiben ihres Mannes bekannt war, aber solange Vianello in dieser untypisch ritterlichen Stimmung war, ließ er das besser ungesagt.
Vianellos Zustimmung kam nur unwillig. »Selbst wenn das der Grund ist -«
Brunetti schnitt ihm das Wort ab. »Was ist mit den Angestellten des Museums?«
Vianello ließ sich den Ordnungsruf gefallen. »Semenzato schien bei ihnen beliebt zu sein. Offenbar war er tüchtig, kam mit den Gewerkschaften gut zurecht und konnte geschickt Verantwortung delegieren, zumindest soweit das Ministerium es zuließ.«
»Was heißt das?«
»Er ließ die Kuratoren entscheiden, welche Bilder restauriert und welche Techniken dabei angewandt werden sollten, auch wann Experten von außerhalb zugezogen wurden. Soweit ich es den Aussagen der Leute entnehmen konnte, mit denen ich gesprochen habe, war sein Vorgänger da ganz anders. Er wollte bei allem mitentscheiden, was hieß, daß alles sehr langsam ging, weil er immer alle Einzelheiten wissen wollte. Den meisten war Semenzato lieber.«
»Noch etwas?«
»Ich bin noch einmal in den Flur gegangen, wo Semenzatos Zimmer ist, und habe mir alles bei Tageslicht angesehen. Es gibt eine Tür vom linken Gebäudeflügel in diesen Korridor, aber die ist zugenagelt. Und übers Dach kann niemand gekommen sein. Sie müssen also die Treppe raufgegangen sein ...«
»... direkt am Kabuff der Wachen vorbei«, beendete Brunetti den Satz für ihn.
»Und auch wieder runter«, setzte Vianello unfreundlich hinzu.
»Was gab's denn an dem Abend im Fernsehen?«
Vianello antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Wiederholungen von Colpo Grosso«, und Brunetti mußte sich notgedrungen fragen, ob sein Sergente an dem Abend zu Hause gewesen war und mit halb Italien zugesehen hatte, wie irgendwelche Möchtegern-Berühmtheiten sich unter dem erregten Gejohle eines Studiopublikums Stück für Stück ihrer Kleider entledigten. Waren die Busen üppig genug gewesen, hätten Diebe wahrscheinlich auf die Piazza gehen und die Basilika mitnehmen können, ohne daß es vor dem nächsten Morgen jemand gemerkt hätte.
Dies schien ihm der rechte Augenblick, das Thema zu wechseln. »Also gut, Vianello, sehen Sie zu, daß Sie die Sache mit dem Telefon in die Wege leiten.«
Nach stillschweigender Übereinkunft war das Gespräch damit beendet. Vianello stand auf. Er war immer noch nicht glücklich darüber, daß die Trauer der Witwe Semenzato gestört werden sollte, ergab sich aber in seine Pflicht. »Sonst noch etwas, Commissario?«
»Nein, ich glaube
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