Brunetti 05 - Acqua alta
und schaute nach beiden Seiten, ob er jemanden wiedererkannte, den er vorhin schon gesehen hatte. Niemand kam ihm bekannt vor. Er wollte sich gerade nach rechts wenden, da fiel ihm etwas ein, was jemand vor ein paar Jahren gesagt hatte, als er zum erstenmal Bretts Wohnung suchte.
Er machte also kehrt, ging bis zur ersten größeren Querstraße, der Galle Giacinto Gallina, und fand an der Ecke, genau wie er sich von seinem ersten Besuch erinnerte, den Zeitungskiosk mit Blick auf die Hauptader dieses Viertels. Und als hätte sie sich seit seinem letzten Hiersein nicht von der Stelle gerührt, saß darin auf ihrem hohen Hocker Signora Maria, eingehüllt in einen handgestrickten Schal, den sie sich mindestens dreimal um den Hals gewickelt hatte. Ihr Gesicht war rot - von der Kälte oder von einem morgendlichen Grappa, vielleicht auch von beidem -, wodurch ihr kurzes Haar noch weißer wirkte.
»Buon giorno, Signora Maria«, sagte er und lächelte in ihr von Zeitungen und Zeitschriften eingerahmtes Gesicht.
»Buon giorno, Commissario«, antwortete sie so selbstverständlich, als wäre er ein alter Kunde.
»Signora, da Sie schon wissen, wer ich bin, wissen Sie wahrscheinlich auch, warum ich hier bin.«
»L'americana?« fragte sie, aber es war eigentlich keine Frage.
Brunetti spürte eine Bewegung hinter sich, und plötzlich schoß eine Hand vor, griff sich eine Zeitung von einem der Stapel vor Signora Maria und reichte ihr dann einen Zehntausendlireschein. »Sag deiner Mutter, der Klempner kommt heute nachmittag um vier«, sagte Maria, während sie Wechselgeld herausgab.
»Grazie, Maria«, sagte die junge Frau, und weg war sie.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte Maria.
»Signora, Sie kennen doch jeden, der hier vorbeigeht, nicht?« Sie nickte. »Wenn Ihnen jemand auffällt, der nicht hierhergehört, würden Sie dann in der Questura anrufen?«
»Aber sicher, Commissario. Ich hatte schon die Augen offen, seit sie wieder zu Hause ist, aber mir ist keiner aufgefallen.«
Wieder schoß von hinten eine Hand, diesmal eindeutig männlich, an Brunetti vorbei und nahm sich eine La Nuova vom Stapel. Die Hand verschwand kurz und erschien gleich darauf wieder mit einem Tausendlireschein und ein paar Münzen, die Maria mit einem gemurmelten grazie entgegennahm.
»Maria, hast du Piero gesehen?« fragte der Mann.
»Er ist bei deiner Schwester und will da auf dich warten.«
»Grazie«, sagte der Mann und verschwand.
Hier war er richtig. »Wenn Sie anrufen, verlangen Sie einfach nach mir«, sagte Brunetti, während er nach einer Visitenkarte kramte.
»Schon gut, Dottor Brunetti«, sagte sie. »Ich habe die Nummer. Ich rufe an, wenn ich etwas sehe.« Sie hob die Hand, und er sah, daß die Fingerspitzen ihrer Wollhandschuhe abgeschnitten waren, damit sie besser mit dem Kleingeld hantieren konnte.
»Kann ich Ihnen etwas bringen, Signora?« fragte er, indem er mit dem Kopf zu der Bar an der gegenüberliegenden Straßenecke deutete.
»Ein Kaffee wäre gut gegen die Kälte«, meinte sie. »Un caffè corretto«, fügte sie hinzu, und Brunetti nickte. Wenn er den ganzen Vormittag in dieser feuchten Kälte stillsitzen müßte, hätte er auch gern einen Schuß Grappa im Kaffee. Er dankte ihr noch einmal und ging in die Bar, bezahlte den caffè corretto und bat, ihn zu Signora Maria hinauszubringen. An der Reaktion des Barmanns merkte er, daß dies hier so üblich war. Brunetti konnte sich nicht erinnern, ob es in der neuesten Regierung einen Informationsminister gab; wenn ja, dann wäre Signora Maria die geborene Kandidatin für den Posten.
In der Questura stieg er rasch zu seinem Zimmer hinauf und fand es zu seiner Überraschung weder tropisch noch arktisch. Einen Moment dachte er, die Heizung wäre nun vielleicht doch endlich repariert worden, aber eine zischende Dampfwolke aus dem Heizkörper unter seinem Fenster machte dieser Phantasie ein Ende. Die Erklärung lag wahrscheinlich in dem dicken Papierstapel auf seinem Schreibtisch. Signorina Elettra hatte ihn wohl erst vor kurzem dort hingelegt und das Fenster geöffnet, solange sie im Zimmer war.
Er hängte seinen Mantel hinter die Tür und ging zum Schreibtisch. Er setzte sich, nahm sich den Papierstapel vor und fing an zu lesen. Zuoberst lag eine Kopie von Semenzatos Kontobewegungen der letzten vier Jahre. Brunetti hatte keine Ahnung, was der Museumsdirektor verdient hatte, und notierte sich, daß er sich danach erkundigen mußte, aber er erkannte den Kontoauszug eines
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