Brunetti 05 - Acqua alta
waren im Krankenhaus«, entgegnete Brett.
»Brett, Sie haben gesagt, es waren keine Venezianer. Ich könnte irgendwer sein, ein Freund, ein Verwandter. Und mir ist niemand gefolgt.« Das stimmte. Nur ein Einheimischer hätte durch die schmalen Gäßchen der Stadt jemanden verfolgen können; nur ein Einheimischer konnte nachvollziehen, wo man plötzlich nicht mehr weiterkam, irgendwo abbiegen mußte, in Sackgassen geriet. Und niemand konnte einem folgen, ohne aufzufallen.
»Was soll ich also tun?« fragte Brett.
»Gar nichts«, antwortete Brunetti.
»Und was heißt das?«
»Nur das. Nichts. Genaugenommen wäre es sogar klug von Ihnen, für eine Weile aus der Stadt zu verschwinden.«
»Ich weiß nicht, ob ich dieses Gesicht irgendwo zeigen möchte«, versetzte sie, aber humorvoll. Ein gutes Zeichen.
Flavia sagte, an Brunetti gewandt: »Ich versuche sie zu überreden, mit mir nach Mailand zu kommen.«
Brunetti spielte sofort mit: »Wann fahren Sie?«
»Am Montag. Ich habe schon zugesagt, am Donnerstag zu singen. Für Dienstag nachmittag ist eine Klavierprobe angesetzt.«
Er wandte sich wieder an Brett. »Fahren Sie mit?« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich halte es für eine gute Idee.«
»Ich werde es mir überlegen.« Mehr war von Brett jetzt nicht zu erwarten, und Brunetti beschloß, es dabei zu belassen.
»Wenn Sie sich dazu entschließen, lassen Sie es mich bitte wissen.«
»Meinen Sie, es besteht Gefahr?« fragte Flavia.
Brett antwortete ihr, bevor Brunetti dazu kam. »Wahrscheinlich ist die Gefahr kleiner, wenn die annehmen, daß ich mit der Polizei gesprochen habe. Dann müssen sie mich nicht mehr davon abhalten.« Dann zu Brunetti: »Das stimmt doch, oder?«
Brunetti pflegte normalerweise niemanden anzulügen, auch Frauen nicht. »Ja, ich fürchte, das stimmt. Solange die Chinesen nichts von den Fälschungen erfahren, wird Semenzatos Mörder annehmen, daß Sie geschwiegen haben und die Warnung ausgereicht hat, Sie davon abzuhalten.« Oder sie konnten versuchen, sie für immer zum Schweigen zu bringen, aber das sagte er lieber nicht.
»Wunderbar«, sagte Brett. »Ich kann also den Chinesen reinen Wein einschenken und meine Haut retten, aber meine Karriere ruinieren. Oder ich schweige, rette meine Karriere und muß dann nur noch um meine Haut fürchten.«
Flavia legte ihr die Hand aufs Knie. »Jetzt hast du zum erstenmal, seit das alles angefangen hat, wieder wie du selbst gesprochen.«
Brett lächelte und sagte: »Nichts geht über Todesangst, um einen Menschen wachzurütteln, was?«
Flavia lehnte sich wieder zurück und fragte Brunetti: »Glauben Sie, daß die Chinesen die Finger im Spiel haben?«
Brunetti neigte nicht mehr als jeder andere Italiener dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben, was hieß, daß er sie oft sogar in den harmlosesten Zufällen sah. »Ich glaube nicht, daß der Tod Ihrer Freundin ein Unfall war«, sagte er zu Brett. »Das heißt, die haben jemanden in China.«
»Wer immer ›die‹ sind«, unterbrach Flavia mit großem Nachdruck.
»Daß ich nicht weiß, wer sie sind, heißt nicht, daß es sie nicht gibt«, gab Brunetti ihr zur Antwort.
»Genau«, sagte Flavia und lächelte.
Dann sagte er zu Brett: »Darum halte ich es für besser, wenn Sie die Stadt eine Zeitlang verlassen.«
Sie nickte abwesend, auf keinen Fall zustimmend. »Wenn ich wirklich mitfahren sollte, sage ich Ihnen Bescheid.« Kaum ein Versprechen. Sie lehnte sich wieder zurück und legte den Kopf an die Rückenlehne. Über ihnen prasselte der Regen.
Er wandte seine Aufmerksamkeit Flavia zu, die ihre Augen zur Tür hin verdrehte und dann eine kleine Bewegung mit dem Kinn machte, was ihm signalisieren sollte, daß es Zeit zum Gehen war.
Er begriff, daß es nicht viel mehr zu sagen gab, und stand auf. Als Brett es sah, zog sie die Beine unter sich hervor und wollte ebenfalls aufstehen.
»Nein, bleib ruhig sitzen«, sagte Flavia, schon im Stehen. »Ich bringe ihn zur Tür.« Damit ging sie in Richtung Diele.
Brunetti beugte sich vor und schüttelte Brett die Hand. Sie sagten beide nichts.
An der Tür nahm Flavia seine Hand und drückte sie herzlich. »Vielen Dank«, sagte sie nur, dann hielt sie die Tür auf, während er an ihr vorbei und die Treppe hinunterging. Die Tür fiel ins Schloß und schnitt das Rauschen des Regens ab.
18
Obwohl er Brett versichert hatte, ihm sei auf dem Weg zu ihrer Wohnung niemand gefolgt, blieb Brunetti stehen, bevor er in die Galle della Testa einbog,
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