Brunetti 06 - Sanft entschlafen
noch so eine unangenehme Person ist, aufgrund irgendwelchen Klatsches, der sich als falsch entpuppt, zu Unrecht leiden muß.« Bevor Brunetti etwas erwidern konnte, hob sie die Hand und sagte etwas lauter: »Nein, ich glaube, es kommt der Wahrheit näher, wenn ich sage, daß ich daran nicht schuld sein möchte.«
»Ich kann dir versichern, daß sie nicht unverdient leiden wird.«
»Das klingt in meinen Ohren sehr doppeldeutig.«
»Stimmt, ist es auch. Offen gestanden habe ich keine Ahnung, ob sie irgend etwas getan hat, oder auch nur, was das gewesen sein könnte. Ich weiß ja nicht einmal, ob überhaupt ein Unrecht geschehen ist.«
»Aber du kommst hierher, um dich über sie zu erkundigen?«
»Ja.«
»Dann muß deine Neugier doch Gründe haben.«
»Die hat sie. Aber ich versichere dir, daß es nichts weiter ist als das. Und wenn du mir etwas sagen kannst, was meine Neugier unbegründet erscheinen läßt, egal, was, dann werde ich es für mich behalten. Das verspreche ich.«
»Und andernfalls?«
Brunetti schürzte nachdenklich die Lippen. »Dann werde ich dem, was du mir gesagt hast, auf den Grund gehen und sehen, wieviel Wahrheit hinter dem Klatsch steckt.«
»Oft steckt ja gar keine dahinter«, sagte sie.
Er mußte lächeln. Der Contessa brauchte bestimmt niemand zu sagen, daß Klatsch ebensooft auf felsenharter Wahrheit gründete.
Nach längerem Schweigen sagte sie: »Es ist von einem Mann die Rede.« Weiter sagte sie nichts.
»In welcher Art ist davon die Rede?«
Statt einer Antwort winkte sie ab.
»Und von was für einem Mann?«
»Das weiß ich nicht. Könnte ein geistlicher Herr sein.«
»Ein Priester?« fragte er.
»Vielleicht. Aber ich weiß es nicht.«
»Was weißt du denn?« fragte er leise.
»Es sind solche Andeutungen gefallen. Nicht offen, verstehst du, nur so, daß man es als reine, aufrichtige Sorge um ihr Wohlbefinden verstehen konnte.« So etwas kannte Brunetti sehr gut: Eine Kreuzigung war gnädiger. »Du weißt, wie solche Dinge in Umlauf gebracht werden, Guido. Sie erscheint zu einem Treffen nicht, und schon fragt jemand, ob ihr etwas fehlt, oder jemand anders sagt, daß von Krankheit wohl nicht die Rede sein kann, weil sie aussieht wie das blühende Leben.«
»Ist das alles?« fragte Brunetti.
Wieder winkte die Contessa ab. »Der Ton macht's. Die Worte bedeuten im Grunde nichts, es ist nur der Ton, in dem sie gesprochen werden, der Unterton. Die Andeutung, die in der unschuldigsten Bemerkung mitschwingt.«
»Wie lange läuft das schon?«
»Guido«, sagte sie, indem sie sich gerader aufrichtete, »ich weiß nicht, ob da überhaupt etwas läuft.«
»Wie lange sind dann diese Andeutungen schon im Umlauf?«
»Ich weiß nicht. Seit einem guten Jahr, glaube ich. Lange habe ich es gar nicht verstanden. Oder man hat sich in meiner Gegenwart nur in acht genommen. Weil bekannt ist, daß ich so etwas nicht mag.«
»Ist sonst noch etwas geredet worden?«
»Wie meinst du das?«
»Zum Beispiel, als ihr Mann starb?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern.«
»Gar nichts?«
»Guido«, sagte sie, wobei sie sich wieder zu ihm herüberbeugte und ihm die Hand auf den Arm legte, »bitte vergiß nicht, daß ich keine Verdächtige bin, und bemühe dich, nicht so mit mir zu reden, als ob ich eine wäre.«
Er fühlte, wie er rot wurde, und sagte rasch: »Entschuldigung. Bitte entschuldige. Ich vergesse das manchmal.«
»Ja, das hat Paola mir schon gesagt.«
»Was hat sie gesagt?« fragte Brunetti.
»Wie wichtig es dir ist.«
»Wie wichtig mir was ist?«
»Was du für Gerechtigkeit hältst.«
»Was ich für Gerechtigkeit halte?«
»Oh, entschuldige, Guido. Ich glaube, jetzt habe ich dich gekränkt.«
Er tat das mit einem raschen Kopfschütteln ab, aber bevor er fragen konnte, was er denn ihrer Ansicht nach für Gerechtigkeit »halte«, erhob sie sich und sagte: »Wie dunkel es schon ist.«
Sie schien ihn ganz und gar vergessen zu haben, wie sie so mit dem Rücken zu ihm am Fenster stand. Brunetti betrachtete sie lange: ihr rohseidenes Kostüm, die hohen Absätze, den perfekten Chignon, die auf dem Rücken verschränkten Hände. Sie hätte ohne weiteres eine junge Frau sein können, so schlank und aufrecht sah ihre Silhouette aus.
Nach einer ganzen Weile drehte sie sich wieder um und blickte auf die Uhr. »Orazio und ich haben eine Essenseinladung, Guido. Wenn du also keine weiteren Fragen hast - ich glaube, ich muß mich jetzt umziehen gehen.«
Brunetti stand auf und ging zu ihr.
Weitere Kostenlose Bücher