Brunetti 06 - Sanft entschlafen
und der ebenfalls für die Nacht verrammelten Casa Goldoni.
Im Gehen dachte er über die rechtlichen Folgen nach, die da Prés Tod haben würde. Das Erbe seiner Schwester war noch zu regeln, und sein plötzliches Ableben gab den Begünstigten des umstrittenen Testaments nun Gelegenheit, ihren Anspruch auf einhundert Millionen Lire geltend zu machen, ein stolzer Betrag für einen Orden, den ein Gelübde zur Armut verpflichtete.
Brunetti begegnete niemandem, bis er zum Campo San Polo kam, wo ein grün uniformierter Wachmann mit einem Schäferhund bei Fuß seine späte Runde drehte. Die beiden Männer nickten sich im Vorbeigehen zu, während der Hund sich nicht um Brunetti kümmerte und nur darauf bedacht war, seinen Herrn nach Hause und ins Warme zu ziehen. Als er sich der Unterführung näherte, die vom campo wegführte, hörte er ein leises Platschen. Er blieb an der Brücke stehen und schaute ins Wasser hinunter, wo er eine langschwänzige Ratte langsam wegschwimmen sah. Brunetti zischte einmal kurz, aber die Ratte ignorierte ihn ebenso wie der Hund und strebte nur langsam weiter nach Hause und ins Warme.
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A m nächsten Morgen ging Brunetti auf dem Weg zur Questura bei da Prés Adresse vorbei und sprach mit Luigi Venturi, dem Mann, der einen Stock tiefer wohnte und die Leiche gefunden hatte. Von ihm erfuhr er nichts, was er nicht auch durch ein Telefonat hätte erfahren können: Da Pré hatte wenige Freunde, selten Besuch, und Venturi wußte nicht, wer die Besucher waren; die einzige lebende Verwandte, von der da Pré je gesprochen hatte, war die Tochter eines entfernten Cousins, die irgendwo bei Verona wohnte. In der vergangenen Nacht hatte Venturi nichts Ungewöhnliches gesehen oder gehört, bis dann das Wasser durch seine Küchendecke zu sickern begann. Nein, da Pré hatte nie von irgendwelchen Feinden gesprochen, die ihm etwas hätten zuleide tun wollen. Venturi bedachte Brunetti bei dieser Frage mit einem merkwürdigen Blick, und Brunetti beeilte sich, ihm zu versichern, daß die Polizei diese unwahrscheinliche Möglichkeit nur ausschließen wolle. Nein, weder er noch da Pré hatten die Angewohnheit, die Tür zu öffnen, ohne sich zuvor zu vergewissern, wer da war. Weitere Fragen ergaben, daß Signor Venturi den größten Teil des Abends ein Fußballspiel im Fernsehen verfolgt und an da Pré oder irgendwelche Vorgänge in dessen Wohnung erst gedacht hatte, als er in seine Küche gegangen war, um sich vor dem Zubettgehen eine Tasse Malzkaffee zu machen, und dort das Wasser an der Wand herunterlaufen sah, worauf er nach oben gegangen war, um festzustellen, was da los war.
Nein, man konnte die beiden Männer nicht als Freunde bezeichnen. Signor Venturi war Witwer, da Pré hatte nie geheiratet. Aber daß sie im selben Haus wohnten, hatte beiden genügt, um einander ihre Schlüssel anzuvertrauen, obwohl bis zur vorigen Nacht keiner je Anlaß gehabt hatte, davon Gebrauch zu machen. Weiter erfuhr Brunetti nichts, und er war sicher, daß es auch nichts weiter zu erfahren gab.
Unter den Papieren, die so ungeordnet in da Prés Schublade gelegen hatten, waren auch mehrere Briefe eines Anwalts mit Büroadresse in Dorsoduro gewesen, und Brunetti rief, sowie er in der Questura war, dort an. Der Anwalt hatte, wie es in Venedig offenbar nicht anders möglich war, schon von da Prés Tod gehört und versucht, die Tochter des Cousins zu verständigen. Sie war jedoch mit ihrem Mann, einem Gynäkologen, für eine Woche in Toronto, wo er an einem Kongreß teilnahm. Der Anwalt sagte, er wolle sie weiter zu erreichen versuchen, sei aber in keiner Weise sicher, ob die Nachricht sie zur Rückkehr nach Italien bewegen könnte.
Auf Brunettis Fragen konnte der Anwalt so gut wie nichts über da Pré sagen. Obwohl er seit Jahren sein Anwalt war und auch die Sache mit dem Testament der Schwester bearbeitete, waren sie füreinander nie mehr als Anwalt und Klient gewesen. Über da Prés Leben wußte er so gut wie nichts, er rückte nur auf Nachfrage damit heraus, daß der Nachlaß, von der Wohnung abgesehen, nicht sehr viel wert sei. Da Pré habe fast sein ganzes Geld in diese Schnupftabakdosen gesteckt, und die habe er dem Museo Correr vermacht.
Danach rief Brunetti bei Rizzardi an, und bevor er noch etwas fragen konnte, sagte der Pathologe: »Ja, er hatte eine kleine Prellung an der linken Kinnseite und eine neben der Wirbelsäule. Beide können von dem Sturz stammen. Im Fallen hat es ihm den Kopf nach hinten gerissen, wie ich Ihnen
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