Brunetti 06 - Sanft entschlafen
ihrem Schreibtisch.
»Was er tut, ist in keiner Weise kriminell.« Sie ließ sich das eben Gesagte durch den Kopf gehen und fügte dann hinzu: »Im Gegenteil.«
»Ich glaube, in diesem Fall muß ich genau wissen, ob das auch stimmt, Signorina.«
Zum erstenmal in den Jahren, die sie zusammenarbeiteten, erntete Brunetti einen Blick offenen Mißfallens von Signorina Elettra. »Und wenn ich Ihnen mein Wort gebe?« fragte sie.
Bevor Brunetti antwortete, betrachtete er die Blätter in seiner Hand, schlechte Fotokopien der Originaldokumente. Ziemlich verwischt, aber doch zu erkennen, sah man am oberen Rand das Siegel des Patriarchen von Venedig.
Brunetti sah auf. »Ich glaube, das wird nicht nötig sein, Signorina. Da könnte ich auch gleich an mir selbst zweifeln.«
Sie lächelte nicht, aber die Anspannung wich aus ihrem Körper, ihrer Stimme. »Danke, Commissario.«
»Meinen Sie, Ihr Freund könnte mir auch Informationen über jemanden besorgen, der Ordenspriester ist, kein Pfarrpriester?«
»Wenn Sie mir den Namen sagen - versuchen könnte er es auf jeden Fall.«
»Pio Cavaletti. Er gehört dem Orden vom Heiligen Sakrament an.«
Sie notierte sich den Namen und sah zu ihm auf. »Noch etwas, Commissario?«
»Nein, vielen Dank.«
»Ich werde ihm das erst heute abend geben. Ich bin bei den beiden zum Abendessen«, erklärte Signorina Elettra.
»Bei Ihrer Freundin?« fragte Brunetti.
»Ja. Solche Dinge bereden wir nie am Telefon.«
»Aus Angst davor, was ihm dann passieren könnte?« fragte Brunetti, ohne selbst so recht zu wissen, wie ernst er das meinte.
»Zum einen«, antwortete sie.
»Und zum anderen?«
»Aus Angst davor, was uns passieren könnte.«
Er musterte sie, um zu sehen, ob sie scherzte, aber ihr Gesicht war ernst und verkniffen. »Glauben Sie das, Signorina?«
»Diese Organisation ist noch nie sehr nett mit ihren Feinden umgegangen.«
»Und das sind Sie, eine Feindin?«
»Durch und durch.«
Brunetti wollte schon nach dem Grund fragen, hielt sich aber zurück. Nicht, daß er ihn nicht hätte wissen wollen - ganz im Gegenteil -, aber er wollte keine Diskussion über dieses Thema anfangen, schon gar nicht in ihrem Büro und genau vor der Tür, durch die in jedem Moment Vice-Questore Patta hätte hereinkommen können. Statt dessen sagte er: »Ich wäre Ihrem Freund sehr dankbar für jede Information, die er mir geben kann.«
Das Telefon klingelte wieder, und diesmal nahm sie ab. Sie fragte, wer am Apparat sei, und bat um einen Augenblick Geduld, bis sie sich den Vorgang auf ihren Bildschirm geholt habe.
Brunetti nickte ihr zu und ging wieder in sein Zimmer hinauf, die Papiere in der Hand.
15
U nd das, dachte Brunetti, während er in sein Dienstzimmer hinaufging, war der Mann, dem er ahnungslos noch bis vor wenigen Tagen die religiöse Erziehung seiner Tochter anvertraut hatte. Er konnte nicht einmal sagen, daß er und Paola es gemeinsam getan hätten, denn sie hatte sich von Anfang an herausgehalten. Er hatte immer gewußt, daß sie dagegen war, aber die sozialen Folgen einer ausdrücklichen Ablehnung des Religionsunterrichts hätten die Kinder tragen müssen, nicht die Eltern, die für sie entschieden. Wo würde ein Kind, dessen Eltern es nicht am Religionsunterricht teilnehmen ließen, sich aufhalten, während seine Altersgenossen den Katechismus und das Leben der Heiligen lernten? Was ging in einem Kind vor, dessen Weg ins Leben nicht von den rituellen Stationen der Erstkommunion und Firmung gesäumt wurde?
Brunetti erinnerte sich an einen Prozeß, der letztes Jahr Schlagzeilen gemacht hatte: Einem durch und durch ehrbaren Ehepaar, kinderlos, er Arzt, sie Anwältin, war von einem Turiner Gericht die Adoption eines Kindes verwehrt worden, weil sie beide Atheisten und darum nach Ansicht des Gerichts als Eltern ungeeignet waren.
Über die Geschichte jener irischen Priester hatte er nur gelacht, als wäre Irland irgendein Drittweltland im Würgegriff einer primitiven Religion, und nun waren hier in seinem eigenen Land die gleichen Würgemale zu erkennen, wenn auch nur für den voreingenommenen Blick.
Brunetti hatte keine Ahnung, was er mit diesem Pfarrer machen sollte; juristisch hatte er nichts in der Hand.
Der Mann war nie angezeigt worden, und Brunetti hielt es für aussichtslos, an irgendeinem seiner früheren Wirkungsorte jemanden zu finden, der offen gegen ihn sprach. Die Infektion war weitergegeben worden, sollten sich jetzt andere damit rumschlagen - eine ziemlich normale
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