Brunetti 06 - Sanft entschlafen
sehen waren. »Hier. Und hier.«
»Wird gemacht, Commissario. Keine Sorge.«
»Danke«, sagte Brunetti, dann erhob er sich und fragte Miotti: »Haben Sie ein Paar Handschuhe? Ich habe vergessen, welche mitzubringen.«
Miotti griff in seine Jackentasche und nahm ein Päckchen mit eingeschweißten Gummihandschuhen heraus. Er riß es auf und gab Brunetti ein Paar. Während dieser sie überstreifte, nahm Miotti ein zweites Paar heraus und zog es an.
»Wenn Sie mir sagen könnten, wonach wir suchen, Commissario...«
»Ich weiß es nicht. Nach allem, was auf Fremdeinwirkung hindeutet, oder auf irgendeinen Grund dafür.« Es gefiel Brunetti, daß Miotti nichts dazu sagte, wie wenig dies seine Frage beantwortete.
Brunetti ging ins Wohnzimmer, wo er sich mit da Pré unterhalten hatte, und sah sich aufmerksam um. Immer noch wurden alle Stellflächen von den kleinen Dosen eingenommen. Er ging zur Kredenz und zog die oberste Schublade zwischen den beiden Türen auf. Sie enthielt weitere Schnupftabakdosen, manche einzeln in Watte gebettet wie quadratische Eier in schneeweißen Nestern. In der zweiten und dritten Schublade war es nicht anders. Die unterste enthielt Papiere. Zuoberst lag eine Mappe mit Schriftstücken, die in geradezu militärischer Systematik geordnet waren, aber darunter lagen Stapel über Stapel von Papieren wild durcheinander, einige mit der Schrift nach oben, andere nach unten, wieder andere doppelt gefaltet, andere einfach. Brunetti nahm die Mappe und die übrigen Papierstapel mit beiden Händen heraus, bevor er merkte, daß er sie nirgends ablegen konnte, denn überall, wohin er blickte, standen Dosen.
Schließlich trug er das Ganze in die Küche und breitete die Papiere auf dem Holztisch aus, der dort stand. Es überraschte ihn nicht, daß die Mappe da Prés Korrespondenz mit Antiquitätenhändlern und Privatsammlern enthielt, in der es um Alter, Herkunft und Preise von Schnupftabakdosen ging. Darunter lagen die Rechnungen, offenbar für Aberhunderte von kleinen Döschen, von denen er manchmal zwanzig und mehr auf einmal erstanden hatte.
Brunetti legte die Mappe beiseite und sah die restlichen Papiere durch, aber wenn er gehofft hatte, irgendeinen Hinweis darauf zu finden, warum da Pré hatte sterben müssen, sah er sich getäuscht. Es waren Stromrechnungen, ein Brief von da Prés früherem Vermieter, ein Werbezettel von einem Möbelhaus in Vicenza, ein Zeitungsartikel über die Folgen der langzeitigen Einnahme von Aspirin sowie die Beipackzettel verschiedener Schmerzmittel, auf denen ihre Nebenwirkungen aufgelistet waren.
Während nebenan die Spurensicherung am Werk war und immer wieder ein Blitzlicht aufflammte, wenn der Leichnam fotografiert wurde, nahm Brunetti sich das Schlafzimmer und die Küche vor, wo er nichts fand, was auf finstere Machenschaften anstelle eines Unfalls hindeutete. Miotti, der eine Schachtel mit alten Zeitungen und Zeitschriften gefunden hatte, war auch nicht erfolgreicher.
Kurz nach ein Uhr durften die Sanitäter des Krankenhauses die Leiche mitnehmen, und gegen zwei war die Spurensicherung fertig. Brunetti bemühte sich, alle Papiere und sonstigen Gegenstände, die er und Miotti beim Durchkämmen der Wohnung in der Hand gehabt hatten, wieder dahin zu tun, wo sie gewesen waren, aber er wußte einfach nicht, wohin mit den unzähligen kleinen Schnupftabakdosen, die zur Abnahme von Fingerabdrücken eingestäubt, zur Seite oder nach hinten geschoben und auf dem Boden abgestellt worden waren. Schließlich gab er es auf, zog seine Gummihandschuhe aus und forderte Miotti auf, seinem Beispiel zu folgen.
Als die anderen sahen, daß Brunetti sich zum Gehen anschickte, sammelten auch sie ihre Taschen, Kameras, Schachteln und Bürsten ein, alle froh, hier Schluß machen und diese gräßlichen kleinen Dosen, die ihnen so viele Stunden Arbeit beschert hatten, zurücklassen zu können.
Brunetti sagte Miotti noch, er brauche morgen nicht vor zehn in die Questura zu kommen, aber er wußte, daß der junge Mann schon um acht da sein würde, wenn nicht früher.
Draußen schlug ihm Nebel entgegen, diese Nachtstunde war die trostloseste und feuchteste. Er wickelte sich seinen Schal um den Hals und ging zum Accademia-Anleger, aber als er hinkam, stellte er fest, daß er ein Boot um zehn Minuten verpaßt hatte und das nächste erst in vierzig Minuten fuhr. Also beschloß er, zu Fuß zu gehen, und nahm den Weg über den Campo San Barnaba, vorbei an den verschlossenen Toren der Universität
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