Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Streifen ins Auge, der ganz wie ein Priesterkragen über dem Revers hervorblitzte. »Ist das Ihre Vorstellung von klösterlicher Schlichtheit?« fragte Brunetti, als er sah, daß der Anzug aus Rohseide war.
»Ach, das«, sagte sie, als wartete sie schon auf die nächste Kleidersammlung, um das Ding loswerden zu können. »Jede Ähnlichkeit mit Klerikern ist rein zufällig, das versichere ich Ihnen, Commissario.« Sie nahm ein paar Blätter von ihrem Schreibtisch und reichte sie ihm. »Wenn Sie das gelesen haben, verstehen Sie bestimmt, warum ich auf die Zufälligkeit solchen Wert lege.«
Er nahm die Blätter und las die ersten Zeilen. »Don Luciano?« fragte er.
»Derselbe. Ein vielgereister Mann, wie Sie sehen werden.« Sie wandte sich wieder ihrem Computer zu und ließ Brunetti Zeit zum Lesen.
Das erste Blatt enthielt eine kurze Biographie des Luciano Benevento, geboren vor siebenundvierzig Jahren in Pordenone. Seine Schulzeit war vermerkt, ebenso sein Eintritt ins Priesterseminar mit siebzehn Jahren. Hier gab es eine Lücke, wahrscheinlich seine Priesterausbildung, aber das hinten angeheftete Schulzeugnis wies ihn nicht als einen hervorragenden Schüler aus.
Noch während seiner Seminaristenzeit war Luciano Benevento aktenkundig geworden, nämlich durch einen Zwischenfall in einem Zug, bei dem eine Mutter ihr Kind bei ihm im Abteil zurückgelassen hatte, um in den Speisewagen zu gehen und etwas zu essen zu holen. Was sich in ihrer Abwesenheit zugetragen hatte, konnte nie ganz geklärt werden, und am Ende hatte man alles der Phantasie des kleinen Mädchens zugeschrieben.
Nach seiner Ordination vor dreiundzwanzig Jahren war Don Luciano in ein kleines Dorf im Tirol entsandt worden und dort vier Jahre geblieben, bis er versetzt wurde, nachdem der Vater eines zwölfjährigen Mädchens, das er in Religion unterrichtete, im Dorf seltsame Geschichten über Don Luciano und die Fragen erzählt hatte, die er seiner Tochter in der Beichte stellte.
Seine nächste Stelle hatte er im Süden gehabt, und dort war er sieben Jahre geblieben, bis er in ein Heim gesteckt wurde, das die Kirche für Priester unterhielt, die Probleme hatten. Welcher Art Don Lucianos Probleme gewesen waren, wurde nicht ausgeführt.
Nach einem Jahr in diesem Heim wurde Don Luciano einer kleinen Gemeinde in den Dolomiten zugewiesen, wo er fünf Jahre lang unauffällig unter einem Pfarrer arbeitete, dessen strenges Regiment angeblich in ganz Norditalien seinesgleichen suchte. Nach dem Tod dieses Pfarrers übernahm Don Luciano die Gemeinde, aber nach zwei Jahren wurde er aus diesem Dorf wegversetzt, wobei von einem »streitsüchtigen kommunistischen Bürgermeister« die Rede war.
Von dort kam Don Luciano in eine kleine Gemeinde an der Peripherie von Treviso, wo er eineinviertel Jahre blieb, bevor er vor drei Jahren in die Pfarrei San Polo versetzt wurde, von deren Kanzel er nun predigte und von wo er an die Schulen geschickt wurde, um seinen Beitrag zur religiösen Unterweisung der Jugend Venedigs zu leisten.
»Wie sind Sie daran gekommen?« fragte Brunetti, nachdem er fertiggelesen hatte.
»Vielfältig und geheimnisvoll sind die Wege des Herrn«, antwortete Signorina Elettra gelassen.
»Diesmal ist die Frage ernst gemeint, Signorina. Ich möchte wissen, wie Sie an diese Informationen gekommen sind«, sagte er, ohne ihr Lächeln zu erwidern.
Sie sah ihn eine kleine Weile an. »Ich habe einen Freund, der im Amt des Patriarchen arbeitet.«
»Ein Kirchenmann?«
Sie nickte.
»Und der hat Ihnen das gegeben?«
Sie nickte wieder.
»Wie haben Sie denn das geschafft, Signorina? Ich könnte mir vorstellen, daß solche Informationen doch eher vor Laien geheimgehalten werden.«
»Das denke ich auch, Commissario.« Ihr Telefon klingelte, aber sie machte keine Anstalten, den Hörer abzunehmen. Nach dem siebten Ton verstummte es. »Er hat ein Verhältnis mit einer Freundin von mir.«
»Verstehe«, sagte er. Dann fragte er beiläufig: »Und damit haben Sie ihn erpreßt?«
»Nein. Keineswegs! Er will schon seit Monaten da raus, einfach weggehen und ein anständiges Leben anfangen. Aber meine Freundin hat ihn zum Bleiben überredet.«
»Im Amt des Patriarchen?«
Sie nickte.
»Als Priester?«
Sie nickte wieder.
»Wo er mit derart heiklen Dokumenten umgeht?«
»Ja.«
»Warum will Ihre Freundin, daß er dort bleibt?«
»Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen, Commissario.«
Brunetti wiederholte seine Frage nicht, rührte sich aber auch nicht von
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