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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Reaktion, und diejenigen, die ihn jetzt los waren, würden mit Sicherheit schweigen, um keinen Skandal heraufzubeschwören.
    Brunetti wußte, daß die Gesellschaft sexuelle Übergriffe eher auf die leichte Schulter nahm und kaum mehr darin sah als Exzesse männlicher Leidenschaft. Er teilte diese Sichtweise nicht. Auch fragte er sich, was das für eine Therapie sein mochte, der man Priester wie Don Luciano in diesem Heim unterzog, in das man ihn gesteckt hatte. Wenn man Don Lucianos Lebensweg nach seinem dortigen Aufenthalt zum Maßstab nahm, konnte die Therapie nicht besonders wirksam gewesen sein.
    In seinem Zimmer warf Brunetti die Papiere auf den Schreibtisch und blieb ein Weilchen davor sitzen, dann stand er auf und ging ans Fenster. Da er draußen nichts Interessantes entdeckte, kehrte er an den Schreibtisch zurück und suchte sich sämtliche Unterlagen in Sachen Maria Testa und zu den verschiedenen Ereignissen zusammen, die man in irgendeiner Weise mit dem in Verbindung bringen konnte, was sie ihm an jenem ruhigen, inzwischen auch schon Wochen zurückliegenden Tag erzählt hatte. Er las alles durch und machte sich hin und wieder eine Notiz. Als er fertig war, starrte er ein paar Minuten lang die Wand an, dann griff er zum Telefon und ließ sich mit dem Ospedale Civile verbinden.
    Zu seiner Überraschung kam er ohne jede Schwierigkeit zur diensthabenden Schwester der Intensivstation durch, und nachdem er sich vorgestellt hatte, erfuhr er von ihr, daß die »Polizeipatientin« in ein Privatzimmer verlegt worden sei. Nein, ihr Zustand habe sich nicht verändert; sie sei noch immer ohne Bewußtsein. Ja, wenn er einen Moment warten wolle, werde sie den Polizisten holen, der vor ihrer Tür sitze.
    Dieser entpuppte sich als Miotti. »Ja, Commissario?« fragte er, als Brunetti seinen Namen nannte.
    »Irgend etwas Neues?«
    »Alles ganz ruhig hier.«
    »Und was machen Sie?«
    »Ich lese, Commissario. Sie haben hoffentlich nichts dagegen.«
    »Besser lesen als den Schwestern nachgaffen, denke ich. Hat jemand sie besucht?«
    »Nur dieser Mann vom Lido. Sassi. Sonst niemand.« »Haben Sie schon Ihren Bruder gesprochen, Miotti?«
    »Ja, Commissario. Erst gestern abend.«
    »Und haben Sie ihn nach diesem Padre gefragt?«
    »Ja, Commissario.«
    »Und?«
    »Also, zuerst wollte er nichts sagen. Ich weiß nicht, ob er nur keinen Klatsch verbreiten wollte. So ist Marco eben«, erklärte Miotti, als wolle er seinen Vorgesetzten um Nachsicht für eine derartige Charakterschwäche bitten. »Aber dann habe ich ihm gesagt, daß ich es unbedingt wissen muß, und da hat er gemeint, es werde geredet - nur geredet, Commissario -, daß Cavaletti mit Opera Pia zu tun habe. Er wußte nichts mit Bestimmtheit, alles nur vom Hörensagen. Verstehen Sie, Commissario?«
    »Ja, ich verstehe. Sonst noch etwas?«
    »Nicht direkt, Commissario. Ich habe nur überlegt, was Sie vielleicht noch wissen möchten, was Sie wahrscheinlich fragen werden, wenn ich Ihnen das sage, und da dachte ich, Sie würden wahrscheinlich wissen wollen, ob Marco glaubt, daß an dem Gerede etwas dran ist. Also habe ich ihn das gefragt.«
    »Und?«
    »Er glaubt es, Commissario.«
    »Danke, Miotti. Dann widmen Sie sich mal wieder Ihrer Lektüre.«
    »Danke, Commissario.«
    »Was lesen Sie denn?«
    »Quattroruote«, nannte Miotti das beliebteste Automagazin.
    »Aha. Ich danke Ihnen, Miotti.«
    »Nichts zu danken, Commissario.«
    Gütigster Jesus am Kreuz, errette uns! Wenn Brunetti an Opera Pia dachte, konnte er nicht umhin, innerlich eines der liebsten Stoßgebete seiner Mutter nachzusprechen. Wenn es ein in Rätsel gehülltes Geheimnis gab, dann Opera Pia. Brunetti wußte nicht mehr darüber, als daß es eine religiöse Organisation war, halb geistlich, halb weltlich, die sich dem Papst zu absolutem Gehorsam verpflichtet fühlte und nach einer irgendwie gearteten Erneuerung der Macht oder Autorität der Kirche strebte. Und kaum hatte Brunetti darüber nachgedacht, was er über Opera Pia wußte und woher er es wußte, wurde ihm klar, daß er überhaupt nicht sicher sein konnte, was davon der Wahrheit entsprach und was nicht. Wenn eine geheime Gesellschaft definitionsgemäß ein Geheimnis ist, kann schließlich alles, was man darüber »weiß«, ebensogut falsch sein.
    Die Freimaurer mit ihren Ringen und Kellen und Cocktailschürzchen hatten Brunetti immer Spaß gemacht. Er wußte kaum etwas Genaueres über sie, hatte sie aber immer für eher harmlos als bedrohlich gehalten,

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