Brunetti 08 - In Sachen Signora Brunetti
Mund und sah, daß Blut daran war. Er fuhr sich mit dem Finger über die Lippe und fühlte etwas Hartes, Scharfes.
»Nein, laß mich das machen«, sagte Paola, wobei sie ihre rechte Hand an seine Wange legte und sein Gesicht zu sich drehte. Dann streifte sie ihren Handschuh ab und berührte mit zwei Fingern seine Lippe. »Was ist es?« fragte er. »Ein Glassplitter.«
Ein kurzer stechender Schmerz, dann küßte sie ihn auf die Unterlippe, aber ganz sanft.
4
A uf dem Heimweg gingen sie in eine pasticceria und kauften ein großes Tablett voller Brioches, für die Kinder, wie sie einander versicherten, aber beide wußten, daß es so etwas wie eine Feier für ihren Friedensschluß war, mochte der auch noch so wacklig sein. Zu Hause angekommen, nahm Brunetti als erstes den Zettel vom Küchentisch und stopfte ihn tief in die Mülltüte unter der Spüle. Dann ging er leise, weil die Kinder noch schliefen, ins Bad, wo er lange heiß duschte, um die Sorgen wegzuspülen, die heute morgen so früh und unerwartet über ihn gekommen waren.
Als er rasiert und angezogen in die Küche kam, war Paola inzwischen wieder in Schlafanzug und Morgenmantel, einem alten karierten Ding aus Flanell, so alt, daß beide schon nicht mehr wußten, wo sie es einmal erstanden hatte. Sie saß am Tisch, vor sich eine Zeitschrift, und tunkte eine Brioche in eine große Tasse Milchkaffee, als wäre sie soeben nach einer langen, erholsamen Nacht aufgestanden.
»Soll ich jetzt hereinkommen, dich auf die Wange küssen und sagen: ›Buon giorno, cara, hast du gut geschlafen?‹«, fragte er, als er sie sah, aber es lag keine Ironie darin, weder in seinem Ton noch in seiner Absicht. Wenn er überhaupt etwas beabsichtigte, dann höchstens, Abstand zu schaffen von den Ereignissen der Nacht, obwohl er wußte, wie unmöglich das war. Dann also wenigstens die unausweichlichen Konsequenzen von Paolas Tun hinauszögern, auch wenn diese Konsequenzen nichts weiter sein würden als erneute verbale Auseinandersetzungen, in denen beide die Haltung des anderen nicht akzeptieren konnten.
Sie sah auf, dachte über seine Worte nach und lächelte, was hieß, daß auch sie sich mit Abwarten zu begnügen gedachte. »Kommst du heute zum Mittagessen nach Hause?« fragte sie, indem sie aufstand und zum Herd ging, um Kaffee in eine große Tasse zu gießen. Dann tat sie noch heiße Milch hinein und stellte sie ihm an den gewohnten Platz.
Beim Hinsetzen dachte Brunetti über diese merkwürdige Situation und den noch merkwürdigeren Umstand nach, daß beide sie so bereitwillig hinnahmen. Er hatte einmal etwas von dem spontanen weihnachtlichen Waffenstillstand an der Westfront im Ersten Weltkrieg gelesen; da waren Deutsche über die Kampflinie gegangen, um den Tommies die Zigaretten anzuzünden, die sie ihnen gerade geschenkt hatten; und die Briten hatten den Hunnen zugelächelt und gewinkt. Schweres Artilleriefeuer hatte dem bald ein Ende gemacht. Besser schätzte Brunetti die Chancen für einen längeren Waffenstillstand mit seiner Frau auch nicht ein. Aber er wollte ihn genießen, solange er währte, und so tat er Zucker in seinen Kaffee, nahm sich eine Brioche und antwortete: »Nein, ich muß nach Treviso und mir einen Zeugen des Banküberfalls vornehmen, den wir letzte Woche am Campo San Luca hatten.«
Da Banküberfälle in Venedig so etwas Sensationelles waren, konnte das gut als Ablenkung herhalten, und Brunetti erzählte Paola - obwohl jeder in der Stadt bestimmt schon in der Zeitung davon gelesen hatte - das wenige, was er selbst wußte: Vor drei Tagen war ein junger Mann mit einer Pistole in eine Bank gekommen, hatte Geld verlangt und sich dann, das Geld in der einen Hand, die Waffe in der anderen, seelenruhig in Richtung Rialto davongemacht. Die in der Decke des Schalterraums versteckte Kamera hatte der Polizei ein verwaschenes Bild geliefert, aber immerhin hatten sie danach den Bruder eines Einheimischen vorläufig identifizieren können, dem enge Beziehungen zur Mafia nachgesagt wurden. Der Räuber hatte beim Betreten der Bank einen Schal über Mund und Nase gehabt, diesen aber beim Hinausgehen abgenommen, so daß ein Mann, der gerade in die Bank kam, sein Gesicht deutlich hatte sehen können.
Der Zeuge, ein Pizzabäcker aus Treviso, der in die Bank gekommen war, um seine Hypothekenrate zu bezahlen, hatte sich den Räuber genau ansehen können, und Brunetti hoffte, daß er ihn anhand der Fotos von Verdächtigen, die sie bei der Polizei zusammengestellt hatten,
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