Brunetti 09 - Feine Freunde
er Angst.« Er schwieg und blickte Vianello an.
Sein Untergebener sagte nichts.
»Wenn Sie ihn gesehen hätten, würden Sie verstehen, was ich meine«, sagte Brunetti. »Der Gedanke, sich übers Geländer beugen zu sollen, machte ihm Todesängste.«
»Und das heißt?« fragte Vianello.
»Das heißt, daß der Mann sich auf gar keinen Fall auf ein Gerüst getraut hätte, schon gar nicht allein.« »Hat er etwas gesagt?«
»Worüber?«
»Über seine Höhenangst?«
»Vianello, ich hab's Ihnen doch gerade erzählt. Er brauchte nichts zu sagen, sein ganzes Gesicht drückte es aus. Er war fast von Sinnen vor Angst. Wenn jemand solche Angst vor etwas hat, dann kann er es nicht tun. Unmöglich.«
Vianello versuchte es andersherum. »Aber er hat nichts zu Ihnen gesagt, Commissario. Das will ich Ihnen ja gerade begreiflich machen - oder vielmehr zu bedenken geben. Sie wissen nicht, ob es der Gedanke an einen Blick übers Terrassengeländer nach unten war, der ihm solche Angst machte. Es könnte auch etwas anderes gewesen sein.«
»Natürlich könnte es auch etwas anderes gewesen sein«, räumte Brunetti fassungslos ein. »Aber es war nichts anderes. Ich habe den Mann gesehen. Ich habe mit ihm gesprochen.«
Vianello erkundigte sich gnädig: »Und das heißt nun?«
»Das heißt, wenn er nicht aus freien Stücken auf dieses Gerüst gestiegen ist, kann er auch nicht unglücklich heruntergefallen sein.«
»Sie meinen also, er ist ermordet worden?«
»Ich weiß das natürlich nicht«, mußte Brunetti gestehen. »Aber ich glaube nicht, daß er da freiwillig hingegangen ist, oder falls er noch freiwillig zu dem Haus gegangen ist, dann war es bestimmt nicht sein freier Wille, auf dieses Gerüst zu steigen.«
»Haben Sie es schon gesehen?«
»Das Gerüst?«
Vianello nickte.
»Dafür war noch keine Zeit.«
Vianello schob den Jackenärmel hoch und sah auf seine Uhr. »Jetzt wäre Zeit, Commissario.«
»Der Vice-Questore will mich um vier Uhr sprechen«, antwortete Brunetti mit einem Blick auf seine eigene Uhr. Es waren noch zwanzig Minuten bis dahin. Er sah Vianellos Blick. »Richtig«, sagte Brunetti. »Gehen wir.«
Sie gingen noch kurz in den Bereitschaftsraum und holten Vianellos Gazzettino, in dem die Adresse des Hauses in Dorsoduro genannt war. Dann holten sie Bonsuan, den Oberbootsführer, und sagten ihm, wohin sie wollten. Auf der Fahrt studierten die beiden, an Deck des Polizeiboots stehend, einen Stadtplan und fanden die Adresse in einer calle, die vom Campo dell'Angelo Raffaele wegführte. Das Boot brachte sie ans Ende der Zattere, wo sie weiter vorn ein riesiges Schiff am Kai liegen sahen, das die ganze Umgebung zur Zwergenstadt schrumpfen ließ.
»Mein Gott, was ist denn das?« fragte Vianello, als sie näher kamen.
»Das ist dieses Kreuzfahrtschiff, das hier gebaut wurde. Es soll das größte der Welt sein.«
»Grauenhaft«, meinte Vianello, den Kopf im Nacken, um zu den oberen Decks fast zwanzig Meter über ihnen hinaufzusehen. »Was tut das hier?«
»Der Stadt Geld bringen«, bemerkte Brunetti trocken.
Vianello blickte ins Wasser, dann zu den Dächern der Stadt hinauf. »Wir sind die reinsten Huren«, meinte er, und Brunetti sah sich außerstande, ihm zu widersprechen.
Bonsuan legte nicht weit von dem großen Schiff an, stieg vom Boot und begann, es an dem mächtigen, pilzförmigen Eisenpoller festzumachen, der sicher einmal für größere Boote gedacht gewesen war, so dick war er.
Brunetti sagte beim Aussteigen zu dem Bootsführer: »Sie brauchen nicht auf uns zu warten, Bonsuan. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird.«
»Ich warte, wenn Sie nichts dagegen haben, Commissario«, antwortete der Ältere, um fortzufahren: »Ich bin lieber hier als dahinten.« Bonsuan hatte nur noch ein paar Jahre bis zur Pensionierung vor sich, und je höher dieser ferne Termin über den Horizont stieg, desto unverblümter sprach Bonsuan aus, was er dachte.
Es war nicht zu übersehen, daß die beiden anderen seine Ansicht teilten, auch wenn sie unausgesprochen blieb. Sie kehrten dem Boot den Rücken und gingen auf dem Weg zum Campo durch einen Teil der Stadt, den Brunetti selten aufsuchte. Früher hatten er und Paola hier gern in einem kleinen Fischrestaurant gegessen, aber es hatte vor ein paar Jahren den Besitzer gewechselt, und das Essen war immer schlechter geworden, darum kamen sie nicht mehr her. Brunetti hatte auch einmal eine Freundin gehabt, die in der Nähe wohnte, aber das war noch während seines
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