Brunetti 09 - Feine Freunde
Studiums gewesen, und sie war vor ein paar Jahren gestorben.
Sie gingen über die Brücke und den Campo San Sebastiano auf den größeren Campo dell'Angelo Raffaele zu. Vianello, der vorausging, bog sofort in eine calle zu ihrer Linken ein, und da sahen sie weiter vorn das Gerüst am letzten Haus in der Reihe, einem viergeschossigen Gebäude, das aussah, als stände es seit Jahren leer. Sie betrachteten die Anzeichen seines Unbewohntseins: die lepröse Farbe, die von den dunkelgrünen Fensterläden abblätterte; die Lücken zwischen den marmornen Wasserspeiern, durch die das Regenwasser unmittelbar auf die Straße platschte, wahrscheinlich sogar ins Haus; das abgerissene Stück einer verrosteten Antenne, das einen Meter unterhalb der Dachkante hing. Für gebürtige Venezianer - also Leute mit angeborenem Interesse am Kauf und Verkauf von Häusern - strahlte das Haus eine Leere aus, die ihnen sogar dann aufgefallen wäre, wenn sie nicht eigens darauf geachtet hätten.
Die Baustelle war aufgegeben, soweit sie das erkennen konnten. Alle Fensterläden waren dicht geschlossen, und nichts deutete darauf hin, daß hier noch gearbeitet wurde. Auch war nichts davon zu erkennen, daß ein Mensch sich hier tödlich verletzt hatte, obschon Brunetti nicht so genau wußte, worin sich das seiner Meinung nach hätte zeigen sollen.
Er trat rückwärts von dem Gebäude weg, bis er mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Hausmauer stand, und musterte eingehend die ganze Fassade, aber da war kein Lebenszeichen. Er ging über die calle zurück, drehte sich um und betrachtete nun das Gebäude gegenüber. Auch hier derselbe Eindruck von Verlassensein. Er blickte nach links: Die calle endete an einem Kanal, auf dessen anderer Seite sich ein großer Garten befand.
Vianello hatte inzwischen auf seine Weise das gleiche getan wie Brunetti und sich sowohl die beiden Häuser als auch den Garten angesehen. Nun kam er und stellte sich neben seinen Vorgesetzten. »Möglich wär's, nicht wahr, Commissario?«
Brunetti nickte dankbar. »Kein Mensch würde etwas merken. Das Haus gegenüber steht leer, und der Garten da drüben sieht nicht so aus, als ob er gepflegt würde. Hier war also niemand, der den Sturz hätte beobachten können«, sagte er.
»Falls er gestürzt ist«, ergänzte Vianello.
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Brunetti: »Liegt uns irgendwas darüber vor?«
»Nicht daß ich wüßte. Es wurde als Unfall gemeldet, glaube ich, so daß sich wahrscheinlich die Vigili Urbani von San Polo der Sache angenommen haben. Und wenn die zu dem Schluß gekommen sind, daß es einer war - ein Unfall, meine ich -, dann war die Geschichte damit erledigt.«
»Vielleicht sollten wir da besser mal hingehen und mit den Leuten reden.« Brunetti stieß sich von der Mauer ab und wandte sich der Haustür zu. Ein Vorhängeschloß mit Kette, die durch einen Eisenring im Türsturz gezogen war, hielt die Tür am Marmorrahmen fest.
»Wie ist er da hineingekommen, um aufs Gerüst zu steigen?« fragte Brunetti.
»Vielleicht können uns die Vigili das sagen«, antwortete Vianello.
Sie konnten es nicht. Bonsuan fuhr sie mit dem Boot den Rio di San Agostino hinauf zur Wache beim Campo San Stin. Der Polizist an der Tür erkannte sie beide und brachte sie sofort zu Sottotenente Turcati, dem Diensthabenden. Er war ein dunkelhaariger Mann, dessen Uniform maßgeschneidert zu sein schien. Brunetti genügte das, um ihn ganz formell mit seinem Dienstgrad anzureden.
Sie setzten sich, und nachdem Turcati sich Brunettis Anliegen angehört hatte, ließ er sich die Akte Rossi heraufbringen. Ein Mann hatte wegen Rossi die Vigili angerufen und auch gleich ein Ambulanzboot angefordert. Da das viel nähere Ospedale Giustinian gerade über kein Ambulanzboot verfügte, hatte man Rossi ins Ospedale Civile gebracht.
»Ist dieser Agente Franchi gerade im Haus?« fragte Brunetti, nachdem er den Namen unter dem Bericht gelesen hatte.
»Warum?« erkundigte sich der Sottotenente.
»Ich möchte mir noch ein paar Dinge von ihm erklären lassen«, antwortete Brunetti.
»Zum Beispiel?«
»Warum er es für einen Unfall gehalten hat. Ob Rossi einen Schlüssel zum Haus in der Tasche hatte. Ob Blut am Gerüst war.«
»Aha«, sagte der Sottotenente und griff zum Telefon.
Während sie auf Franchi warteten, erkundigte sich Turcati, ob sie vielleicht gern einen Kaffee hätten, doch beide lehnten dankend ab.
Nachdem sie ein paar Minuten geplaudert hatten, trat ein junger Polizist ein.
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