Brunetti 09 - Feine Freunde
oder Papierschnipseln angereichert.
Brunetti ging die Treppe hinauf. Der Geruch schlug ihm auf dem ersten Absatz entgegen. Es war ein stickiger, bedrückender, durchdringender Geruch, der von Fäulnis, Widerwärtigkeit und unmenschlicher Unreinheit sprach. Je näher Brunetti dem zweiten Stock kam, desto stärker roch es, und eine furchtbare Sekunde lang sah er im Geiste eine Lawine von Molekülen über sich hereinbrechen, seine Kleidung durchsetzen und ihm in Nase und Rachen dringen, alle beladen mit ihrer grausigen Mahnung an die Sterblichkeit.
Ein dritter Polizist, der im trüben Licht sehr blaß aussah, stand vor der Wohnungstür. Brunetti bedauerte, daß die Tür zu war, denn das hieß ja, daß der Gestank noch viel schlimmer werden würde, wenn man sie öffnete. Der junge Polizist salutierte und trat dann sehr schnell zur Seite, so schnell, daß er gleich mindestens vier Schritte Abstand von der Tür nahm.
»Sie können nach unten gehen«, sagte Brunetti, dem klar war, daß der Junge schon fast eine Stunde hier gestanden haben mußte. »Gehen Sie ein Weilchen an die Luft.«
»Danke, Commissario«, antwortete der Polizist und salutierte noch einmal, bevor er rasch um Brunetti herumging und schon die Treppe hinuntersauste.
Von hinten hörte Brunetti das Rumpeln und Scheppern, mit dem die Kriminaltechniker ihr Arbeitsgerät heraufschleppten.
Er widerstand dem Drang, tief Luft zu holen; statt dessen nahm er seinen ganzen Mut zusammen und streckte die Hand nach der Tür aus. Bevor er sie aber öffnen konnte, rief einer der Techniker: »Commissario, nehmen Sie zuerst das hier.« Als Brunetti sich umdrehte, riß der Mann gerade die Plastikhülle von einer Atemmaske ab und reichte diese Brunetti, bevor er auch seinem Kollegen eine gab. Alle streiften sich die Gummibänder über die Ohren und die Masken über Mund und Nase, alle froh, den scharfen Geruch der Chemikalien einzuatmen, mit denen die Masken getränkt waren.
Brunetti machte die Tür auf, und der Gestank überfiel sie, den Chemikalien zum Trotz. Er hob den Kopf und sah, daß alle Fenster geöffnet worden waren, wahrscheinlich von der Polizei, womit der Tatort gewissermaßen kontaminiert war. Allerdings bestand kaum die Notwendigkeit, diesen Tatort abzuschirmen; selbst Cerberus wäre jaulend vor solchem Gestank geflohen.
Steifbeinig und gegen alle Widerstände seines Körpers ging Brunetti durch die Tür, die anderen ihm nach. Im Wohnzimmer sah es aus, wie man es in einer Studentenwohnung eben erwarten würde; es erinnerte ihn daran, wie seine Freunde gelebt hatten, als sie auf die Universität gingen. Ein altes Sofa war mit einem farbenfrohen indischen Tuch bedeckt, das über die Rückenlehne geworfen und unter Sitzfläche und Armlehnen gestopft worden war, damit es aussah wie ein Bezug. An der Wand stand ein langer Tisch, der mit Papieren und Büchern bedeckt war, dazwischen lag eine Orange, auf der sich grüner Schimmel ausgebreitet hatte. Weitere Bücher und allerlei Kleidungsstücke nahmen zwei Stühle ein.
Der Junge lag rücklings auf dem Küchenboden. Sein linker Arm war nach hinten ausgestreckt, die Nadel, die ihn getötet hatte, steckte noch in der Vene gleich unterhalb des Ellbogengelenks. Die rechte Hand war um den Kopf gekrümmt, eine Haltung, in der Brunetti eine Geste seines Sohnes wiedererkannte, wenn dieser merkte, daß er einen Fehler gemacht oder etwas Dummes angestellt hatte. Auf dem Tisch, wie zu erwarten: ein Löffel, eine Kerze und der kleine Plastikumschlag, in dem das Zeug gewesen war, das ihn umbrachte. Brunetti wandte sich ab. Durch das offene Küchenfenster blickte man auf ein anderes blindes Fenster gegenüber, dessen Läden geschlossen waren.
Einer der Techniker kam herein und sah auf den Jungen hinunter. »Soll ich ihn zudecken, Commissario?«
»Nein. Wir sollten ihn lieber nicht anrühren, bevor der Arzt ihn gesehen hat. Wer kommt?«
»Guerriero.«
»Nicht Rizzardi?«
»Nein, Commissario. Heute hat Guerriero Dienst.«
Brunetti nickte nur und ging zurück ins Wohnzimmer. Das Gummiband der Maske hatte an seiner Wange zu scheuern begonnen, weshalb er die Maske abnahm und in die Tasche stopfte. Der Gestank verschlimmerte sich kurz, aber dann hatte er sich daran gewöhnt. Der zweite Techniker ging mit Stativ und Kamera in die Küche, und Brunetti hörte ihre gedämpften Stimmen, als sie besprachen, wie diese Szene am besten festzuhalten sei für jenes Stückchen Geschichte, das Marco, Student an der Universität und jetzt
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