Brunetti 09 - Feine Freunde
tot mit einer Nadel im Arm, von nun an einnehmen würde in den Archiven der Polizei von Venedig, Perle der Adria. Brunetti ging zum Schreibtisch des Jungen und betrachtete den Wust aus Papieren und Büchern, der dem so ähnlich sah, den er selbst als Student immer auf seinem Schreibtisch gehabt hatte, sehr ähnlich auch dem, den sein Sohn jeden Morgen hinterließ, wenn er zur Schule ging.
Im inneren Umschlagdeckel einer Geschichte der Architektur fand Brunetti den Namen: Marco Landi. Langsam durchforstete er die Papiere, wobei er gelegentlich innehielt, um einen Satz oder Absatz zu lesen. Dabei stellte sich heraus, daß Marco Landi an einer Abhandlung über die Gärten von vier der zwischen Venedig und Padua gelegenen Villen aus dem achtzehnten Jahrhundert gearbeitet hatte. Brunetti fand Bücher und fotokopierte Artikel über Landschaftsarchitektur, sogar einige Skizzen, die offenbar von dem toten Jungen selbst stammten. Lange betrachtete er eine große Zeichnung von einer bis ins letzte ausgearbeiteten Gartenanlage. Jeder Baum, jede Pflanze war darin detailgetreu eingezeichnet. Man konnte sogar die Zeit auf der großen Sonnenuhr ablesen, die sich links neben einem Brunnen befand: Viertel nach vier. Am unteren rechten Rand entdeckte er hinter einem dicken Oleander zwei Häschen, die neugierig den Betrachter ansahen und beide satt und zufrieden wirkten. Er legte das Blatt weg und nahm ein anderes, das offenbar zu einem völlig anderen Projekt gehörte, denn darauf war ein ultramodernes Haus dargestellt, das auf freitragenden Stützen über einem leeren Raum balancierte, einer Schlucht oder Klippe vielleicht. Brunetti betrachtete die Zeichnung genau und entdeckte wieder die Häschen, die diesmal fragend hinter einer modernen Skulptur im Vorgarten des Hauses hervorlugten. Er legte auch diese Zeichnung beiseite und nahm sich noch ein paar andere vor. Auf jeder erschienen die Häschen, mitunter schwer zu finden, weil sie so schlau versteckt waren: einmal im Fenster eines Wohnhauses, einmal hinter der Windschutzscheibe eines vor einem Haus parkenden Autos. Brunetti fragte sich, wie Marcos Professoren wohl das Erscheinen der Häschen in jeder neuen Arbeit aufgenommen haben mochten, ob sie sich eher amüsiert oder geärgert hatten. Und er machte sich so seine Gedanken über den Jungen, der sie auf jeder Zeichnung irgendwo untergebracht hatte. Warum Häschen? Und warum immer zwei?
Er wandte seine Aufmerksamkeit von den Zeichnungen ab und einem handgeschriebenen Brief zu, der links daneben lag. Er trug keinen Absender und kam laut Poststempel von irgendwoher in Trient, aber den Ortsnamen konnte man nicht lesen, dafür war der Stempel zu stark verwischt. Brunetti überflog das Blatt und sah, daß es mit Mamma unterschrieben war.
Er schaute kurz beiseite, bevor er zu lesen begann. Der Brief enthielt die üblichen Familiennachrichten: Papà war mit der Frühjahrsaussaat beschäftigt; Maria, offenbar Marcos jüngere Schwester, machte sich gut in der Schule. Briciola war wieder einmal dem Briefträger nachgerannt; ihr selbst ging es gut, und sie hoffte, daß es mit Marcos Studium voranging und er keinen Ärger mehr hatte. Nein, Signora, Ihr Marco wird nie mehr Ärger haben, aber Ihnen bleiben nun für den Rest Ihres Lebens nur noch Verlassenheit und Schmerz und das schreckliche Gefühl, an diesem Jungen irgendwie versagt zu haben. Und mögen Sie noch so genau wissen, daß Sie nicht schuld daran sind, wird die Gewißheit, daß Sie es irgendwie doch sind, allezeit tiefer und entschiedener sein.
Brunetti legte den Brief fort und sah rasch die übrigen Sachen auf dem Schreibtisch durch. Es fanden sich noch mehr Briefe von der Mutter des Jungen, aber Brunetti las sie nicht. Endlich stieß er in der Kiefernholzkommode, die links von dem Schreibtisch stand, in der obersten Schublade auf ein Adreßbuch, in dem die Telefonnummer und die Anschrift von Marcos Eltern standen. Er steckte das Büchlein in die Seitentasche seines Jacketts.
Bei einem Geräusch an der Tür drehte er sich um und sah Gianpaolo Guerriero, Rizzardis Assistenten. Für Brunetti war Guerrieros Ehrgeiz allzu leicht von seinem schmalen, lebhaften Gesicht sowie der Hast aller seiner Bewegungen abzulesen, aber vielleicht war es auch nur so, daß Brunetti um den Ehrgeiz des Mannes wußte und deshalb diese Eigenschaft - er konnte sich nicht dazu durchringen, sie eine Tugend zu nennen - in allem sah, was er tat. Brunetti hätte Guerriero gern sympathisch gefunden, seitdem
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