Brunetti 09 - Feine Freunde
geschminkt, als hätte sie jeden Gedanken an eine eventuelle Nützlichkeit solcher Maßnahmen schon lange aufgegeben.
»Commissario Brunetti?« fragte sie, ohne aufzustehen.
»Ja. Ich möchte Ingeniere dal Carlo sprechen.«
»Darf ich mich nach Ihrem Begehr erkundigen?« fragte sie in präzisem Italienisch - allerdings hatte Brunetti diese Redewendung seit Jahrzehnten nicht mehr gehört.
»Ich möchte ihm ein paar Fragen zu einem ehemaligen Mitarbeiter stellen.«
»Ehemalig?«
»Ja. Franco Rossi«, sagte er.
»Ach so, ja«, sagte sie, wobei sie eine Hand zur Stirn hob und ihre Augen abschirmte. Sie ließ die Hand wieder sinken, nahm ihre Brille ab und sah dann zu Brunetti auf. »Der arme junge Mann. Hat Jahre hier gearbeitet. Es war schrecklich. So etwas ist bei uns noch nie passiert.« An der Wand über ihrem Schreibtisch hing ein Kruzifix, zu dem sie nun den Blick hob, während ihre Lippen sich in einem stummen Gebet für den toten jungen Mann bewegten.
»Kannten Sie Signor Rossi?« erkundigte sich Brunetti und endete, als hätte er ihren Namen nicht mitbekommen, mit einem fragenden: »Signora.?«
»Dolfin, Signorina«, antwortete sie knapp und legte eine Kunstpause ein, fast als wollte sie sehen, wie er auf den Namen reagierte. Dann fuhr sie fort: »Sein Zimmer war gleich hier gegenüber. Er war so ein höflicher junger Mann, immer sehr respektvoll gegenüber Dottor dal Carlo.« Es klang, als gäbe es in Signorina Dolfins Augen kein höheres Lob.
»Aha«, machte Brunetti, der es müde war, immer dieselben Lobhudeleien zu hören, die durch den Tod eines Menschen offenbar unumgänglich wurden. »Könnte ich jetzt den Ingeniere sprechen?«
»Natürlich«, sagte sie im Aufstehen. »Sie müssen entschuldigen, daß ich soviel rede. Angesichts eines so tragischen Todes weiß man einfach nicht, wie man sich verhalten soll.«
Brunetti nickte; es war nach seiner Erfahrung die beste Methode, einem Klischee zu begegnen.
Sie ging ihnen die paar Schritte von ihrem Schreibtisch zur Zimmertür ihres Chefs voraus. Dort hob sie die Hand, klopfte zweimal, wartete kurz und klopfte dann leise noch ein drittes Mal, als hätte sie im Lauf der Jahre einen Code entwickelt, der dem Mann hinter der Tür sagte, welche Art von Besuch er zu erwarten hatte. Als die Stimme des Mannes hinter der Tür avanti rief, sah Brunetti ein unverkennbares Glimmen in ihren Augen und konnte beobachten, wie ihre Mundwinkel sich aufwärts bogen.
Sie öffnete die Tür, ging hinein und machte sofort einen Schritt zur Seite, damit die beiden Männer eintreten konnten, dann sagte sie: »Commissario Brunetti, Dottore.« Brunetti hatte beim Eintreten schon mit einem Seitenblick den großen, dunkelhaarigen Mann hinter seinem Schreibtisch sitzen sehen, aber seine Aufmerksamkeit galt weiter Signorina Dolfin, deren Gebaren eine faszinierende Verwandlung durchmachte, bis hin zu ihrer Stimme, die einen viel herzlicheren, volleren Klang bekam als vorhin, während sie mit ihm sprach.
»Danke, Signorina«, sagte dal Carlo, ohne sie mehr als eines kurzen Blickes zu würdigen. »Das wäre es dann.«
»Danke, Dottore«, antwortete sie, dann drehte sie sich sehr langsam um, ging hinaus und zog leise die Tür hinter sich zu.
Dal Carlo erhob sich lächelnd. Er war Ende Fünfzig, hatte aber die straffe Haut und die aufrechte Haltung eines Jüngeren. Sein Lächeln legte ein Gebiß bloß, das nach italienischer Art überkront war: eine Nummer größer als nötig. »Wie ich mich freue, Sie kennenzulernen, Commissario«, sagte er, wobei er die Hand ausstreckte, und als Brunetti sie nahm, bedachte er ihn mit einem männlich-kräftigen Händedruck. Dann nickte er Vianello zu und geleitete beide zu einer Sitzgruppe in der einen Ecke des Zimmers. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
Brunetti setzte sich erst einmal, dann sagte er: »Ich möchte etwas über Franco Rossi erfahren.«
»Ach ja«, seufzte dal Carlo und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Schreckliche Geschichte, richtig tragisch. Er war ein wunderbarer junger Mann, ein hervorragender Mitarbeiter. Er hatte eine erfolgreiche Karriere vor sich gehabt.« Er seufzte noch einmal und wiederholte: »Tragisch, tragisch.«
»Wie lange hat er hier gearbeitet, Ingeniere?« fragte Brunetti.
Vianello zückte ein kleines Notizbuch, klappte es auf und begann, sich Notizen zu machen.
»Mal überlegen«, begann dal Carlo. »An die fünf Jahre, würde ich sagen.« Er lächelte. »Ich kann ja Signorina Dolfin fragen. Sie wird
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