Brunetti 09 - Feine Freunde
suchen. Er zog einen Stuhl an den Schrank, stieg hinauf und sah auf dem obersten Brett das Kästchen stehen, das sein Vater bei Kriegsende aus Rußland mitgebracht hatte. Das Vorhängeschloß befand sich ordnungsgemäß an der Haspe, aber ihm fiel beim besten Willen nicht ein, wo er den Schlüssel hingetan hatte. Er nahm den Kasten herunter und trug ihn zum Bett. Oben auf den Deckel war ein Zettel geklebt, und darauf stand in Chiaras sauberer Handschrift: »Papà - Raffi und ich wissen ja eigentlich nicht, daß der Schlüssel hinter dem Bild in Mamas Arbeitszimmer klebt. Baci.«
Er holte den Schlüssel und überlegte kurz, ob er noch einen Kommentar auf den Zettel schreiben sollte; aber nein, er wollte die Kinder lieber nicht noch ermutigen. Er schloß den Kasten auf, nahm die Pistole heraus, lud sie und steckte sie in das lederne Holster, das er schon vorher an seinen Gürtel geschnallt hatte. Dann stellte er den Kasten wieder in den Schrank und machte sich auf den Weg.
Die calle war, wie schon die beiden anderen Male, die er hierhergekommen war, menschenleer, und auf dem Gerüst waren auch keine Arbeiten im Gange. Er löste die Halterung und betrat das Haus, doch diesmal ließ er die Tür hinter sich offen. Er unternahm auch keinen Versuch, leise aufzutreten oder sein Hiersein sonstwie zu verbergen. Am Fuß der Treppe blieb er stehen und rief: »Zecchino, hier ist die Polizei. Ich komme jetzt rauf.«
Er wartete eine kleine Weile, aber von oben kam keinerlei Antwort. Er bedauerte, daß er keine Taschenlampe mitgebracht hatte, und als er in den ersten Stock hinaufging, war er froh um das bißchen Licht, das von hinten durch die offene Tür hereinfiel. Von oben war noch immer kein Laut zu hören. Brunetti ging weiter in den zweiten, dann in den dritten Stock und hielt dort auf dem Treppenabsatz inne. Er öffnete die Läden zweier Fenster, so daß er immerhin Licht genug hatte, um zur Treppe zurück und zum Dachboden hinaufzugehen.
Oben blieb er stehen. Rechts und links des Treppenabsatzes befanden sich zwei Türen, eine dritte bildete das Ende eines kurzen Flurs. Durch einen kaputten Fensterladen links von ihm kam genügend Helligkeit herein. Er wartete, rief noch einmal Zecchinos Namen und ging dann, durch das Schweigen sonderbar beruhigt, zur ersten Tür auf der rechten Seite.
Der Raum dahinter war leer. Das heißt, es war niemand darin, nur ein paar Kästen mit Werkzeug standen herum, dazu ein Sägebock, über dem eine alte, gipsverschmierte Malerhose hing. Hinter der Tür auf der gegenüberliegenden Seite gähnte die gleiche Leere. Blieb nur noch die dritte am Ende des Flurs.
Dahinter fand er, wie er gehofft hatte, Zecchino, und er fand auch das Mädchen. In dem trüben Lichtschein, der durch ein verdrecktes Oberlicht hereinsickerte, sah er sie zum erstenmal. Sie lag auf Zecchino. Ihn mußten sie zuerst umgebracht haben, oder er hatte als erster aufgegeben und war unter dem Hagel von Schlägen zusammengebrochen, während sie weitergekämpft hatte, vergebens, nur um am Ende auf ihn zu fallen.
»Gesù bambino«, sagte Brunetti leise, als er die beiden sah, und er mußte sich zusammennehmen, um kein Kreuzzeichen zu machen. Da lagen sie, zwei kraftlose Gestalten, geschrumpft im Tod, der die Menschen auf so eine bestimmte Weise kleiner aussehen läßt. Ein dunkler Heiligenschein aus getrocknetem Blut umgab ihre Köpfe, die dicht nebeneinanderlagen wie bei jungen Hündchen oder Liebenden.
Brunetti sah von Zecchino den Hinterkopf, von dem Mädchen das Gesicht, oder was von dem Gesicht noch übrig war. Offenbar hatte man beide totgeschlagen: Zecchinos Schädel hatte nichts Rundes mehr; bei dem Mädchen war die Nase fort, zertrümmert von einem so schweren Schlag, daß nur noch ein Stück Knorpel übrig war, das auf der linken Wange lag.
Brunetti wandte sich ab und sah sich in dem Zimmer um. An der einen Wand lagen ein paar fleckige Matratzen übereinander, daneben Kleidungsstücke - er sah erst jetzt, als er wieder auf die beiden Toten blickte, daß sie halb nackt waren. Sie hatten die Kleider einfach abgeworfen in ihrer Hast, zu tun, was immer sie auf diesen Matratzen taten. Er sah eine blutige Spritze auf dem Boden liegen, und sogleich fiel ihm ein Gedicht ein, das Paola ihm einmal vorgelesen hatte: Da versuchte der Dichter eine Frau dadurch herumzukriegen, daß er zu ihr sagte, ihrer beider Blut sei in dem Floh vermischt, der sie beide gebissen habe. Damals war es ihm krankhaft vorgekommen, die Vereinigung von
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